Großbritannien:Eine Insel driftet ab

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Camerons Kampf für Europa könnte zu spät kommen.

Von Christian Zaschke

Zwar ist es Premier David Cameron gerade gelungen, den Parteitag der britischen Konservativen mit einer bemerkenswerten Rede zu einem großen Erfolg zu machen. Aber die Begeisterung, die er mit seinem in Teilen durchaus sozialdemokratischen Entwurf einer gerechteren Gesellschaft entfachte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Hauptthema seiner zweiten Amtszeit immer heftiger unter der Oberfläche brodelt. Die Frage, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt, wird die Agenda des Premiers mindestens bis zum kommenden Herbst bestimmen. Auch beim kurzen Besuch von Kanzlerin Angela Merkel auf Camerons Landsitz Chequers an diesem Freitag wird das Thema eine gewichtige Rolle spielen.

Die EU-Gegner legen zu - Premier Cameron muss endlich kämpfen

Auf dem Parteitag in Manchester kam die EU-Frage in den offiziellen Reden kaum vor, aber sie stand im Zentrum vieler Randveranstaltungen, der sogenannten Fringe-Meetings. Auf diesen war zu hören, dass die Europa-Gegner unter den Tories immer mutiger, offener und zuversichtlicher werden. Am Amtssitz des Premiers in 10 Downing Street macht sich die leise Sorge breit, dass Camerons Taktik nicht aufgeht. Da er das Verhältnis Großbritanniens zu Brüssel neu verhandeln will, bevor er bis spätestens Ende 2017 eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft anberaumt, halten er und sein Kabinett sich mit positiven Aussagen zur EU zurück. Die Strategen der Regierung sind der Ansicht, dass positive Äußerungen den Verhandlungspartnern signalisierten, dass Cameron ohnehin für den Verbleib werben werde, ganz gleich, was die Verhandlungen ergäben.

Diese selbst auferlegte Zurückhaltung führt dazu, dass die Debatte über das Für und Wider der Mitgliedschaft derzeit ziemlich einseitig geführt wird. Wann immer sich die EU-Skeptiker in Essays, Zeitungsartikeln oder Reden äußern, bleiben ihre Worte ohne Widerspruch seitens der Regierung. Dadurch haben die Austritts-Kampagnen zuletzt an Momentum gewonnen. Die EU-Gegner glauben mittlerweile, dass ein Austritt tatsächlich möglich ist.

Im Lager der Proeuropäer herrscht nun die Befürchtung, dass es zu spät sein könnte, wenn die Verhandlungen endlich abgeschlossen sind und die Regierung beginnt, für einen Verbleib in der EU zu werben. Dass sie das tun wird, gilt als ziemlich sicher. Für Cameron ist Europa keine Herzensangelegenheit, aber er will nicht der Premier sein, der das Land aus der EU geführt hat. Finanzminister George Osborne, der Stratege der Regierung, ist ganz entschieden für den Verbleib.

Dass sich in Manchester Minister aus der zweiten Reihe vorsichtig proeuropäisch äußern durften, deutet darauf hin, dass Downing Street die Gefahr erkannt hat, die Debatte zu verlieren, bevor sie richtig begonnen hat. Cameron mag mit seiner großen Rede den Versuch unternommen haben, sich als Premier noch einmal neu zu erfinden. Für seinen Platz in der Geschichte wird hingegen entscheidend sein, wie er in den kommenden Wochen und Monaten mit der europäischen Frage umgeht.

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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