Großbritannien:Das Phänomen

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Jeremy Corban inszeniert sich nie. Und bis vor Kurzem galt der Linke eher als ein Außenseiter in seiner Labour-Partei. Jetzt ist er aber der heiße Favorit für ihren Vorsitz.

Von Christian Zaschke, London

In den vergangenen Tagen hat der BBC-Reporter Chris Mason jeden Morgen einen der vier Kandidaten für den Labour-Vorsitz zu Hause mit dem Auto abgeholt. Die Idee: Auf der Fahrt ins Büro in Westminster würde Mason ein lockeres Interview führen, und die Zuschauer hätten die Chance, die Politiker ein wenig besser von ihrer menschlichen Seite kennenzulernen.

Am Dienstag war Mason also mit Yvette Cooper unterwegs, die verriet, dass sie sich gerne heitere Sendungen im Fernsehen ansieht. Am Mittwoch stieg Andy Burnham ein und übertrieb seinen Liverpooler Akzent mal wieder aufs Schönste.

Am Donnerstag war Liz Kendall dran, die, obwohl sie laut allen Umfragen nicht die geringste Chance auf den Parteivorsitz hat, sehr viel lachte und richtig gute Laune verbreitete, was womöglich auch daran lag, dass Großbritannien den nassesten August seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt hat und dieser nun endlich, endlich vorbei ist.

Als Mason Freitag früh bei Jeremy Corbyn vorfuhr, erwartete dieser ihn mit dem Fahrrad. "Ich liebe dieses Fahrrad", sagte er freundlich, "damit fahre ich überall hin." Dann schloss er es sorgfältig ab und setzte sich mit Reporter Mason ins Café.

Die Szene sagte mindestens zweierlei: Zum einen bewegt sich der betont bodenständige Corbyn natürlich nicht mit dem Auto durch London, sondern nutzt wie das Gros der gut acht Millionen Einwohner dieser Stadt das Rad und öffentliche Verkehrsmittel. Zum anderen macht er nicht jede Idee der Medien mit, sondern bestimmt selbst, wie und wo er sich befragen lässt. Die Wahlkampfstrategen Corbyns hätten den Auftritt nicht besser inszenieren können, aber eine Inszenierung war gar nicht nötig: Corbyn ist grundsätzlich immer wie er ist.

Seine Chancen waren ähnlich wie die der englischen Elf, die Fußball-WM zu gewinnen

Seit 32 Jahren sitzt der 66-Jährige für Labour im Parlament und gehört seit jeher zum sehr linken Flügel. Von der Neuerfindung der Partei unter Tony Blair als "New Labour" hielt er ziemlich genau nichts, was er gern und oft zum Ausdruck brachte. Für Fraktionszwänge hat er sich nie interessiert, wenn er anderer Meinung als die Parteispitze war, dann stimmte er auch so ab.

Er will Schluss machen mit New Labour: Jeremy Corbyn, 66, kommt vom linken Flügel und will Unternehmen und Reiche mehr besteuern. (Foto: Ian Forsyth/Getty Images)

Es ist wenig verwunderlich, dass er mit dieser Haltung nie für ein wichtiges politisches Amt infrage kam. Bis zu diesem Frühjahr hatte außer politischen Insidern kaum jemand von Jeremy Corbyn gehört. Dass er Parteivorsitzender werden könnte, galt als ungefähr so wahrscheinlich wie ein WM-Sieg der englischen Fußballer. Die Wettanbieter boten eine Quote von 900 zu 1.

Das hat sich in den vergangenen drei Monaten drastisch geändert. Corbyn ist mittlerweile klarer Favorit auf den Parteivorsitz. Der neue Labour-Chef wird in einer Urwahl bestimmt, am nächsten Samstag wird das Ergebnis auf einem Sonderparteitag bekanntgegeben. Die Umfrage-Institute sind einig, dass Corbyn mit großem Abstand vorne liegt.

In den vergangenen Wochen sind die vier Kandidaten immer wieder gemeinsam aufgetreten, um sich von Zuschauern und Moderatoren, Zeitungen und Fernsehsendern befragen zu lassen. Bei der Debatte des Guardian wurde Andy Burnham gefragt, wie er sich den phänomenalen Aufstieg Corbyns erkläre. Burnham galt zunächst als deutlicher Favorit auf den Vorsitz, weil er sich als Schatten- Gesundheitsminister stets für den Nationalen Gesundheitsdienst starkgemacht hatte und mit diesem Liverpooler Akzent spricht, der ihn von den Karriere-Politikern in Westminster abzuheben schien. "Ich habe lange darüber nachgedacht", sagte Burnham. Dann sprach er über etwas anderes.

Corbyn ist ein ausnehmend höflicher Mann, der nie laut wird. Während Burnham versucht, sich durch seinen Akzent von der Westminster-Elite abzuheben und immerhin halbmenschlich zu wirken, muss sich Corbyn da keine Mühe geben. Er wirkt in seinen Überzeugungen authentisch, selbst seine vielen Gegner erkennen an, dass er zu dem steht, was er sagt. Das kommt bei der Labour-Basis gut an, weil die Partei nach der verlorenen Wahl im Mai, bei der die Konservativen die absolute Mehrheit errangen, auf der Selbstsuche ist. Corbyn erscheint, obwohl seine Kritiker sagen, dass seine politischen Ideen größtenteils aus dem vergangenen Jahrhundert stammen, für viele Labour-Mitglieder wie die Chance auf einen Neuanfang. Oder zumindest die Chance zur Rückbesinnung auf die Wurzeln der Partei.

Die anderen Kandidaten stehen im Wesentlichen für eine Fortführung des wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurses. Corbyn hat völlig andere Pläne. Er will Unternehmensgewinne höher besteuern und dafür sorgen, dass die Reichen mehr zum Gemeinwohl beitragen. Zudem will er die Eisenbahn und die Energieversorger zumindest zum Teil wieder verstaatlichen. Er will Studiengebühren abschaffen, ist gegen Atomwaffen und stellt den militärischen Interventionismus Großbritanniens infrage. Am Donnerstag sagte er in der letzten Debatte der vier Kandidaten vor der Wahl, er könne sich keinen Fall vorstellen, in dem Großbritannien mit Truppen eingreifen sollte. Die EU kritisierte er, weil sie zunehmend "als freier Markt" operiere, der die Arbeitnehmerrechte aushöhle. Laut einem seiner Wirtschaftsberater würde er den Chef der Bank von England entlassen, falls er sich weigerte, mehr Geld für Infrastruktur-Projekte zu drucken.

Es ist ein radikales, in weiten Teilen populistisches Programm, das bei Teilen der britischen Bevölkerung auch deshalb gut ankommt, weil sich in kaum einem Industrieland die Schere zwischen Arm und Reich so sehr geöffnet hat. Großbritannien erlebt unter den Tories zwar einen Aufschwung, aber bei Millionen Briten kommt davon wenig an. Und der Boom am Arbeitsmarkt hat auch mit den vielen neuen Billigjobs zu tun.

Seit die vier Kandidaten um den Vorsitz kämpfen, haben sich 160 000 Menschen neu bei der Partei registriert, um mitstimmen zu dürfen. Dieser Zulauf verdankt sich vor allem Corbyn. Er zieht gleichermaßen junge Wähler wie ehemalige Labour-Mitglieder an, die sich unter Tony Blair von der Partei abgewandt hatten. 610 000 Menschen stimmen über den Vorsitz ab.

Sie wurden in den vergangenen Wochen von heutigen und früheren Labour-Größen mit Appellen überhäuft, keinesfalls für Corbyn zu stimmen. Allein Tony Blair hat sich dreimal geäußert. Er ist in der Partei äußerst umstritten. Einerseits hat er sie zu drei Wahlsiegen geführt, anderseits in den Irak-Krieg. Er weiß, dass es zweischneidig ist, wenn er sich zu Wort meldet: Viele Mitglieder werden mit Freude und grundsätzlich genau das Gegenteil von dem tun, was Blair rät.

Der Ex-Premier ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wer in seinem Herzen fühle, für Corbyn stimmen zu müssen, der brauche eine Transplantation, sagte er. Er schrieb: "Wenn Jeremy Corbyn Parteichef wird, werden wir nicht wie 1983 oder 2015 verlieren. Es wird eine totale Niederlage, möglicherweise die Auslöschung." Für jene, denen das immer noch nicht deutlich genug war, legte Blair nach: "Die Partei läuft mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen über die Klippe." Es sei jetzt nicht die Zeit, um des lieben Friedens willen stillzuhalten. Es sei "Zeit für ein Rugby-Tackle".

Corbyn reagierte gelassen. Am Freitag sagte er ebenso gütig wie leise tadelnd, er wisse nicht, wie Politiker auf die Idee kommen könnten, einander persönlich anzugreifen, man könne doch über alles sachlich diskutieren. Und dann sagte er zu BBC-Mann Mason: "Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis: Ich habe sogar zwei Fahrräder.

Ganz im Ernst: zwei."

Corbyn gilt als eher humorlos, aber nun lächelte er erfreut, und in der Tat war dieser Witz gar so nicht schlecht. Er war eine leise Anspielung, eine Retourkutsche gegen das Establishment der Partei, gegen Blairs früheren Stellvertreter John Prescott. Der musste seinerzeit einräumen, dass er zwei Autos besaß, und weil es sich um zwei Jaguars handelte, trug er fortan den Spitznamen "Two Jags". Seine Glaubwürdigkeit als Sprecher der einfachen Leute hat das doch erheblich unterminiert.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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