Großbritannien:Blitz-Karriere der Chancenlosen

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Bewirbt sich um den Tory-Vorsitz: Andrea Leadsom. (Foto: dpa)

Zu unerfahren für den Tory-Vorsitz? Genau das könnte Andrea Leadsoms Vorteil sein.

Von Christian Zaschke, London

Der konservative Abgeordnete Ken Clarke sitzt seit 46 Jahren im Parlament, er weiß, wie das politische Geschäft in Westminster läuft. Über das EU-Referendum sagte er zum Beispiel: "Sollte eine Mehrheit für den Austritt stimmen, hält sich David Cameron keine 30 Sekunden im Amt." Offiziell hatte es immer geheißen, Cameron werde in jedem Fall Premier bleiben, ganz gleich wie das Votum über die EU-Mitgliedschaft ausfalle. Doch Clarke hatte recht: In seiner ersten Amtshandlung am Morgen nach der Wahl kündigte Cameron seinen Rücktritt an.

Als dann alle in Westminster darüber sprachen, dass Camerons Nachfolger mit größter Wahrscheinlichkeit Boris Johnson sein werde, lächelte Clarke, strich sich über seinen beträchtlichen Bauch und sagte: "Ich habe schon einige dieser Wahlen miterlebt, und meine Erfahrung ist, dass sie nie der Favorit gewinnt, sondern jemand, von dem vor wenigen Wochen noch niemand gehört hat." Sollte Clarke auch diesmal recht behalten, heißt Großbritanniens nächste Premierministerin Andrea Leadsom.

Für diese Prognose hätte man bei den Buchmachern vor wenigen Wochen noch exzellente Quoten bekommen. Außerhalb des Betriebs in Westminster war die Staatsministerin im Energieressort weitgehend unbekannt. Eine breitere Öffentlichkeit wurde auf sie aufmerksam, weil sie in zwei TV-Debatten zum Referendum auftrat und für den Austritt aus der EU warb. Ihre sachliche Ausstrahlung wurde gelobt. Sie argumentierte, dass es dem Vereinigten Königreich außerhalb der EU wirtschaftlich besser gehen werde und begründete diese Analyse damit, dass sie das aufgrund von 25 Jahren Erfahrung in der Finanzwirtschaft beurteilen könne. Das Gesicht der EU-Gegner war der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, aber Leadsom spielte eine wichtige Rolle.

Als sie ankündigte, sich als Vorsitzende der Tories zu bewerben, galt sie dennoch als chancenlos, doch die Umstände spielten ihr in die Hände. Wer hätte ahnen können, dass Justizminister Michael Gove beschließen würde, die Kandidatur des klaren Favoriten Boris Johnson zu unterminieren, indem er diesem die Gefolgschaft aufkündigte und selber antrat? Johnson musste sich daraufhin zurückziehen, das Rennen war plötzlich offen. Gove galt den meisten Tories nach seiner Intrige als unwählbar. Intern nannten sie ihn einen "Selbstmordattentäter", der nicht nur Johnsons, sondern auch seine eigene Karriere in die Luft gejagt habe.

Leadsom sammelte derweil Unterstützer in der Fraktion. Innenministerin Theresa May ist die Favoritin, sie hat 60 Prozent der Fraktion hinter sich, während lediglich 25 Prozent für Leadsom votierten. Doch das spielt nun keine Rolle mehr. Für Leadsom ging es nur darum, sich den zweiten Platz zu sichern, weil das bedeutet, dass sie es in die letzte Runde geschafft hat, in der sich zwei Kandidaten dem Votum der 150 000 Mitglieder der Tories stellen müssen. Die Basis hat selten so abgestimmt, wie die Fraktion sich das vorstellte. Vor elf Jahren wählten die Mitglieder zum Beispiel einen unerfahrenen und weitgehend unbekannten Abgeordneten namens David Cameron zum Chef.

Die 59 Jahre alte May ist deutlich erfahrener als ihre Konkurrentin. Seit 1997 sitzt sie im Parlament, sie war Generalsekretärin der Partei, seit sechs Jahren ist sie Innenministerin. Die 53 Jahre alte Leadsom wurde erst 2010 ins Unterhaus gewählt und war nie Mitglied des Kabinetts. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Frauen besteht jedoch darin, dass Leadsom für den Austritt aus der EU geworben hat, während May sich für den Verbleib aussprach. Die Basis der Tories ist notorisch europaskeptisch, sie wählt ungern Europafreunde an die Spitze, weshalb May zuletzt immer wieder betonte: "Brexit heißt Brexit. Es wird keine Hintertür geben und kein zweites Referendum." Ob sie die Mehrheit der Basis damit überzeugt, ist nun die große Frage.

Der weise Ken Clarke kennt die aktuelle Konstellation aus eigener Erfahrung. 2001 hatte er sich um den Parteivorsitz beworben und die Unterstützung der meisten Abgeordneten. Er trat als Favorit gegen Ian Duncan Smith an. Clarke ist seit jeher der vielleicht größte Europafreund unter den Tories, während Duncan Smith keine Gelegenheit ausließ, seiner Geringschätzung für die EU wortreich Ausdruck zu verleihen. 60 Prozent der Mitglieder votierten damals für Duncan Smith, der zuvor lediglich ein Drittel der Stimmen in der Fraktion auf sich hatte vereinen können. Andrea Leadsom hofft nun, dass sich die Geschichte wiederholt.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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