Großbritannien:Auffällig abwesend

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Labour-Chef Jeremy Corbyn (rechts) galt für die Wahl in Großbritannien am 8. Juni lange als chancenlos, doch jetzt holt er plötzlich auf. (Foto: Andrew Matthews/dpa)

Premierministerin Theresa May scheut kurz vor der Wahl ein Fernsehduell - prompt schmilzt ihr Vorsprung. Und die blasse Labour-Partei hat plötzlich wieder Aussichten.

Von Alexander Menden, London

Die schärfste Eröffnungsrede in der Fernsehdebatte der britischen Parteichefs hielt am Mittwochabend Tim Farron. Der Vorsitzende der Liberaldemokraten wandte sich an das Publikum im BBC-Studio in Cambridge ebenso wie an die Fernsehzuschauer, als er sagte: "Die Premierministerin ist heute Abend nicht hier. Sie wollte einfach nicht, warum also sollten Sie alle sie wollen? Sie denkt, dass sie es nicht nötig hat - haben Sie es nötig, sie zu wählen?"

Farron hat keine Aussicht, bei den Unterhauswahlen am 8. Juni britischer Regierungschef zu werden; seine Partei liegt in den Umfragen zwischen sieben und zehn Prozent. Aber dass Theresa May, der vor ein paar Wochen noch alle einen Erdrutschsieg voraussagten, ihren Posten auf jeden Fall behalten wird, scheint auch nicht mehr ganz so sicher zu sein. Eine Umfrage des Instituts YouGov sah die Konservativen am Mittwochabend bei 42 Prozent, Labour bei 39 Prozent. Und obwohl ihr Vorsprung in den meisten anderen Befragungen noch immer um die zehn Prozent liegt, dürfte Theresa Mays Nichterscheinen bei der Fernsehdebatte ihr keinesfalls genützt haben.

Rivale Corbyn ruft May listig auf, doch auch "auf einen Schwatz" vorbeizukommen

Dabei hatte die Premierministerin, seit sie im April überraschend Neuwahlen ausrief, immer betont, sie werde an keiner Fernsehdebatte teilnehmen. Stattdessen tourte sie durchs Land, wo sie vor handverlesenen Zuhörern in leeren Fabrikhallen Wahlkampfslogans von sich gab. Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte es allerdings auch nicht viel besser gemacht, sondern verkündet, er werde nur zu einer Debatte kommen, bei der auch die Premierministerin zugegen sei. Das hatte für Unmut unter jenen Labour-Mitgliedern gesorgt, die ihn ohnehin für schwach und inkompetent halten. Doch dann änderte Corbyn, offenbar angespornt von einem vergleichsweise geglückten Fernsehinterview zu Wochenbeginn, am Mittwoch kurzfristig seine Meinung: Er wolle nun doch nach Cambridge reisen, rief er bei einem Wahlkampfauftritt, und forderte May auf, doch auch "auf einen Schwatz" vorbeizukommen.

Dieser Kurswechsel traf May und ihr Wahlkampfteam offenkundig völlig unerwartet. Auf die Frage eines Reporters, warum sie sich nicht traue, öffentlich zu debattieren, lachte sie peinlich berührt und antwortete, Corbyn solle, statt Zeit mit Wahlkampfreden im Fernsehen zu verschwenden, lieber "ein bisschen mehr an die Brexit-Verhandlungen" denken: "Das ist es jedenfalls, was ich tun werde, um das bestmögliche Abkommen für Großbritannien zu bekommen." Eine Rechtfertigung, die in den Medien Hohn erntete - schließlich war es Mays eigene Entscheidung gewesen, die Wahlen auszurufen, die derzeit von den Brexit-Vorbereitungen ablenken.

Eine Mehrheit werden die Tories wohl bekommen. Ob auch die Regierungsmehrheit, ist fraglich

Als Vertretung hatte sie ihre Innenministerin Amber Rudd geschickt, die telegener und weniger verkrampft ist als May. Und obwohl auch die anderen Parteivertreter von der Scottish National Party, den Grünen und der walisischen Plaid Cymru sich wacker schlugen - Paul Nuttall von Ukip wurde von allen erfolgreich in Schach gehalten - lief es auf ein Duell zwischen Corbyn und Rudd hinaus. Aufregend war das nicht; beide verteidigten vor allem die Reformvorschläge, über deren jeweilige Finanzierung Unklarheit herrscht. Letztlich landete keiner einen entscheidenden Treffer. Es blieb vor allem die Abwesenheit der Premierministerin im Gedächtnis.

Dass May an diesem Abend die Gelegenheit verstreichen ließ, sich mit ihren politischen Gegnern zu messen, lässt sie, die im Wahlkampf so beharrlich auf ihre "Stärke" und "Stabilität" hingewiesen hat, nun schwach und unsicher aussehen. Nach ihrer ersten Rede am Donnerstag zu urteilen, wird sie nun alles auf die Brexit-Karte setzen und Labour unter Corbyn als zu inkompetent und unpatriotisch darstellen, um sich bei den Verhandlungen mit der "aggressiven EU" durchsetzen zu können. Es steht eine schmutzige Wahlkampfwoche bevor. Eine Mehrheit werden die Tories wohl bekommen. Ob es allerdings für eine Regierungsmehrheit reicht, ist fraglicher denn je.

© SZ vom 02.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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