Griechenland:"Wir erwarten keine Wunder"

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Die Konkurrenten Alexis Tsipras und Evangelos Meimarakis versprechen den Griechen einen Weg aus der Misere. Das Volk ist weniger enthusiastisch.

Von Mike Szymanski, Athen

Die Herzen fliegen Alexis Tsipras zu. Sie können gar nicht anders. Manche haben Flügel und sind in Knallrot an eine der Eingangssäulen dieser Grundschule gemalt. Der ehemalige griechische Regierungschef läuft an ihnen vorbei, ohne lange Notiz davon zu nehmen. Mit großen Schritten stürmt er das Gebäude in Athen, als müsse er nur mal schnell einen kaputten Wasserhahn reparieren. Hier ist das Wahllokal 661, der Stadtteil heißt Kypseli.

Tsipras wohnt hier. Er hat tatsächlich etwas zu reparieren. Seine Regierung ist zerbrochen. Er sagt: "Morgen ist ein neuer Tag. Heute können wir ihn gewinnen."

Es geht an diesem Sonntag um einen Neuanfang. Griechenland wählt ein neues Parlament. Wie es aussieht, hat Tsipras den neuen Tag gewonnen. In den Zahlen, die nach Schließung der Wahllokale im Fernsehen präsentiert werden, liegt er vorne. Tsipras und sein Linksbündnis Syriza können wohl weiterregieren. Dann aber als Partei, die jetzt Sparpolitik betreibt. Das kommt einer Sensation gleich. Seine Vorgänger, die in der Krise Sparpolitik machten, mussten gehen.

Tsipras darf bleiben. Man hat Tsipras an dieser Stelle schon unsicherer erlebt. Am 5. Juli war das, da hatte er die Griechen in das Referendum getrieben. Er wollte von ihnen wissen: Für oder gegen Sparpolitik? Ein Druckmittel in den Verhandlungen mit den Geldgebern in Brüssel um ein drittes Hilfspaket. Tsipras hatte versprochen, die Sparpolitik zu beenden. Dann ging es plötzlich auch um diese Frage: Euro, ja oder nein? Tsipras sah damals schlecht aus, als habe er sich mächtig verhoben. Dann machte der Herzensfänger Bemerkenswertes: Er holte sich ein klares Nein seiner Griechen zur Fortsetzung der Sparpolitik ab, um daraus dann ein Ja zu Europa abzuleiten und am Ende seine Unterschrift unter ein neues Sparprogramm zu setzen. So ein Tsipras-Anhängerherz hat viel durchmachen müssen in den vergangenen Monaten. Und sehr viele Herzen sind in dieser Zeit erkaltet.

Mann der Herzen: Voller Zuversicht zeigte sich Ex-Regierungschef Tsipras bei der Abstimmung in Griechenland. (Foto: imago/ZUMA Press)

Für Tsipras ging es bisher immer bergauf. Diesmal musste er richtig kämpfen. Ein anderer hat ihm die Macht streitig gemacht. Er hat sich vor ein paar Wochen aufgemacht, um die kalten Herzen aufzuwärmen: Evangelos Meimarakis, 61 Jahre alt. Von ihm wird wohl lange dieses Plakat in Erinnerungen bleiben, das an vielen Bushaltestellen in Athen klebt. Es zeigt einen sorgenvoll dreinblickenden älteren Herren mit Schnauzer und gutmütigen Gesichtszügen. Er hat die konservative Nea Dimokratia in diesen Wahlkampf geführt. Wer nun meint, nur Syriza hätte sich verändert, der muss sich mal diese Partei anschauen: Seine Abschlusskundgebung hielt Meimarakis nicht auf dem stolzen Syntagma-Platz vor dem Parlament ab, sondern dort, wo die Krise besonders hingelangt hat: auf dem Omonia-Platz, ein paar Gehminuten von dort entfernt. In den Touristenhotels streicht das Personal diesen Platz gerne mal in den Stadtplänen durch, weil die Besucher dieses heruntergekommene Athen mit Obdachlosen, Prostituierten, Drogenhändlern und Flüchtlingen besser nicht sehen sollen. Hierhin hatte Meimarakis seine Anhänger bestellt, um ihnen zu zeigen, dass sich unter Syriza wirklich nichts verbessert habe. "Tsipras kann das Land nicht retten", hatte er ihnen zugerufen. "Diese Wahl ist die letzte Chance, die uns bleibt. Wir können nicht länger Lügen und falschen Versprechen folgen."

Als er am Sonntag seine Stimme abgibt, beansprucht auch er den Montag für sich. "Ich glaube, alle Griechen werden heute Abend das neue Griechenland feiern, das am Montag kommt", sagt Meimarakis. Die Bürger wollten "das Graue, die Lüge und die Misere" aus ihrem Alltag verjagen.

Meimarakis hat in seiner Partei nach Kräften versucht, die Misere zu verjagen: Seine Vorgänger Kostas Karamanlis und Antonis Samaras, die ihre Mitverantwortung an der Krise tragen, dürfen nicht zu ihm auf die Bühne. Das Graue haftet dieser Partei aber immer noch an. "Wir erwarten kein Wunder", sagte Eleni Avgeri, eine Rentnerin aus dem Publikum. Es gibt auch kein Wunder. Es gab Umfragen, die sahen Nea Dimokratia vor Syriza. Auf den letzten Metern des Wahlkampfes hat sich Tsipras wieder leicht nach vorne geschoben. Im Fernsehduell kam er deutlich entschlossener rüber als Meimarakis. Der Herausforderer will unbedingt eine große Koalition - mit Syriza. Er machte den Eindruck, Angst davor zu haben, das Land alleine durch die kommenden Jahre steuern zu müssen. Tsipras ist ein glänzender Wahlkämpfer. Am Freitagabend hatte er bei seiner Abschlusskundgebung bewiesen, dass er noch immer die Leute für sich begeistern kann. Man konnte zuschauen, wie er die Masse, die anfangs noch skeptisch war, packte.

Er wollte unbedingt die zweite Chance. Am Ende seiner Rede hatte man fast vergessen, dass er schon eine hatte.

Jetzt kriegt er wohl noch eine.

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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