Gesundheit:Das Männerschnupfen-Märchen

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Entgegen dem Klischee reagieren Frauen stärker auf Schmerz.

Von Sebastian Herrmann

Der Mann an und für sich dient im öffentlichen Diskurs gerade entweder als Ziel von Wut und Verachtung oder von Spott und Häme. Als Witzfigur gilt er insbesondere dann, wenn er leidet. Der kranke Mann wird gerne als Waschlappen geschmäht, als Weichling, der jeden Schnupfen zur Seuche überhöht und seinen Zustand dramatisiert. Als Männergrippe hat dieses Klischee Karriere gemacht: Pharmafirmen werben mit dem Begriff für Erkältungsmittelchen, Comedians schlachten ihn für ihre Sketche aus. Und auf dem Minenfeld der Partnerschaft verdrehen Frauen die Augen, wenn ihr Liebster unpässlich ist. Müssten Männer Kinder gebären, heißt es dann oft, wäre die Menschheit längt ausgestorben; niemals würden die Typen die Schmerzen ertragen.

Tatsächlich unterscheidet sich das Schmerzempfinden zwischen den Geschlechtern. Doch was die Wissenschaft zu diesem Thema zusammengetragen und veröffentlicht hat, passt nicht zur gängigen Vorstellung: Frauen haben demnach eine geringere Toleranz für Schmerz und reagieren empfindlicher als Männer. Es scheint also genau anders herum zu sein, als das Klischee nahelegt. "Die Befunde sind eindeutig", sagt Jeffrey Mogil von der McGill University in Montreal, Kanada. "Man kann allenfalls über das Ausmaß des Unterschieds diskutieren", so der Genetiker und Schmerzforscher in einer aktuellen Veröffentlichung im Fachjournal Current Opinion in Behavioral Science. Darin zeigt der Forscher auch, dass die Geschlechter Schmerz auf verschiedenen neuronalen Wegen verarbeiten.

Aus den publizierten Daten lässt sich jedoch keineswegs herauslesen, dass nun jede Frau wehleidig und jeder Mann tapfer ist - erst in der Gesamtheit ergibt sich das Bild, das die Wissenschaft in ihren Studien darstellt. Männer tolerieren Schmerzen also im Durchschnitt besser als Frauen, über die Belastungsgrenzen eines Individuums sagt das allerdings gar nichts aus. Doch jeder klagende Mann wird rasch als Beleg für das populäre Bild vom Waschlappen interpretiert und jede Schmerzepisode einer Frau als Beweis für die überlegene weibliche Leidensfähigkeit betrachtet. Dahinter stecken vor allem Stereotype: Allem Gerede über moderne Geschlechterrollen zum Trotz sollte auch der moderne Mann der Gegenwart bitteschön nicht über Gebrechen klagen oder gar Schwäche zeigen.

Und es steckt eine zweite Fehlwahrnehmung hinter dem Klischee: Schmerz härtet nämlich keinesfalls gegen weiteren Schmerz ab, im Gegenteil, die Grenze des Ertragbaren nimmt ab. So hat eine Studie im Fachblatt Pain gezeigt, dass wiederkehrende Schmerzen während der Regelblutung die Toleranzschwelle senken. Mediziner haben zudem beobachtet, dass Frauen Schmerzen eher chronifizieren und unter Schmerzpatienten überrepräsentiert sind. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass physischer Schmerz im Alltag von Frauen wohl präsenter ist.

Das Klischee vom höchst wehleidigen Mann wird dennoch am Leben bleiben. Das ist auch dem kanadischen Forscher Mogil klar. Seit 20 Jahren gebe er Interviews zu dem Thema, schreibt er, und versuche, den Mythos zu widerlegen - ohne Erfolg. Anders als gegen Schmerzen scheint es gegen diese Legende kein Mittel zu geben.

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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