Geplatzter Loveparade-Prozess:Die zweite Katastrophe

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Die Ermittlungen enden in einem Desaster. Die Staatsanwaltschaft hält jahrelang an einem untauglichen Gutachter fest. Nun bleibt nur noch eine winzige Chance auf ein Verfahren.

Von Varinia Bernau und Bernd Dörries

Als Ministerpräsidentin wahre ich die Unabhängigkeit der Justiz", sagt Hannelore Kraft am Dienstag in Düsseldorf. In den vergangenen Wochen war ihr immer mal wieder vorgeworfen worden, sich zu spät oder gar nicht geäußert zu haben zu wichtigen Ereignissen in ihrem Land. Nun spricht Kraft schon, bevor das Landgericht Duisburg überhaupt öffentlich erklärt hat, warum es die Anklage im Loveparade-Verfahren nicht zulassen wird.

Als Ministerpräsidentin habe sie das zu akzeptieren, sagt Kraft. Als Mensch nicht. Da falle es ihr "sehr schwer, diesen Beschluss zu begreifen". Viel weiter kann man nicht gehen, als Politiker in Deutschland, wenn man nicht die Grundprinzipien des Rechtsstaates infrage stellen will. Aber es stellt sich eben auch die Frage, was schiefläuft in einem Rechtsstaat, der es nicht schafft, Gerechtigkeit zu schaffen für die Hinterbliebenen der 21 Toten, die 2010 bei der Loveparade ums Leben kamen. Sie starben, weil die Zugänge zum Festivalgelände viel zu eng waren für mehrere Hunderttausend Besucher des Technofestivals. Von einer Massenpanik war danach oft die Rede. Aber für eine Panik braucht es Platz, die Toten der Loveparade, sie sind im Gedränge erstickt und zu Tode getrampelt worden. Das Technofestival sollte damals etwas Farbe ins triste Duisburg bringen. Es brachte letztlich den Tod. Jeder zeigte danach auf den anderen, schuld wollte keiner sein. Weder die Stadt noch Rainer Schaller, der Veranstalter und Eigentümer der Fitnesscenter McFit.

Alle Opfer hätten "darauf gesetzt, dass lückenlos aufgeklärt wird. Das rückt nun in weite Ferne", sagt Kraft. Vielleicht auch in unendliche. "Diese Tragödie hat uns alle tief getroffen. Sie berührt uns alle, auch mich persönlich, und auch die mit der Sache befassten Richter", sagt Gerichtspräsident Ulf-Thomas Bender. Sie alle hegten die Erwartung, dass die Ursachen für diese Katastrophe aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Genau diese Erwartung aber muss Bender nun enttäuschen. Auf 460 Seiten erklärt das Landgericht Duisburg den Verfahrensbeteiligten, warum es die Anklage nicht zulassen wird. Es ist ein Vorgang, wie es ihn in Deutschland noch nicht gegeben hat. Es sei der Anklage nicht gelungen "den Beweis für die den Angeschuldigten vorgeworfenen Sorgfaltspflichtverletzungen und deren Kausalität zu erbringen", schreibt das Gericht im Beschluss, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Etwa 50 000 Seiten Akten, mehr als fünf Jahre Ermittlungen. Alles umsonst? Zwei Punkte waren für die Anklage entscheidend. Die Rampe, die zum Festivalgelände führte, war am Veranstaltungstag durch Zäune verstellt. Statt der vorgesehenen 18,28 Meter war sie an der schmalsten Stelle nur 10,59 Meter breit. Die sechs Angeschuldigten der Stadt Duisburg und die vier beschuldigten Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent hätten die Hindernisse aus dem Weg räumen müssen, dann hätte sich auch keine tödliche Menschenmenge gebildet, so die Staatsanwaltschaft. Außerdem sei das Veranstaltungskonzept schöngerechnet gewesen. So viele Menschen hätten nie durch den Tunnel und über die schmale Rampe auf das Veranstaltungsgelände geschleust werden dürfen.

Belegt werden sollte das alles von dem Briten Keith Still, Professor für "Crowd Science", ein schwer zu übersetzendes Fachgebiet. Darin galt Still als Experte - Erfahrung als Gerichtsgutachter hatte er aber keine vorzuweisen, zumindest nicht in Deutschland. Für die Verteidigung war er ein Geschenk. "Er hat alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte", sagt Rechtsanwalt Björn Gercke, Verteidiger eines Beschuldigten des Veranstalters. Die Ablehnung des Gerichtes liest sich wie eine Zusammenfassung der Schriftsätze, die Gercke über die Jahre gegen den Gutachter eingebracht hat.

"Das Gutachten ist wegen erheblicher Verstöße von Prof. Dr. Still gegen Grundpflichten eines Sachverständigen unverwertbar", schreiben die Richter. Still habe seine Pflicht zu "Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität" verletzt. Bei mehreren Vorträgen und auf seiner Homepage habe er sich darauf festgelegt, dass "Planungsfehler und Genehmigungsfehler" Ursache der Katastrophe gewesen seien. "Diese Äußerungen lassen aufgrund ihres Inhalts und ihrer Vielzahl Rückschlüsse auf die innere Haltung zu, die seine Neutralität beeinflussen kann." Zudem habe Still die Pflicht zur persönlichen Gutachtenerstellung verletzt und Hilfskräfte beauftragt. Still hat Zahlen durcheinandergebracht in seinem Gutachten und es nicht einmal geschafft, "konkrete Angaben zu den tatsächlichen Besucherzahlen" zu machen.

Im Loveparade-Verfahren war auch viel von politischem Druck die Rede

Dabei war das ja der Kern der Anklage: Dass die Veranstalter viel mehr Leute auf das Gelände ließen, als auf dem Gelände Platz war. Hier verrennt sich Still völlig. "Das Gutachten ist in sich widersprüchlich", sagt Gerichtspräsident Ulf-Thomas Bender. Der Gutachter habe die Besucherprognosen des Veranstalters als "manipuliert" bezeichnet, sie ein paar Seiten weiter aber selbst verwendet. All das hatte Gercke über Jahre immer wieder moniert. Es war ein Scheitern mit Ansage. Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht einfach einen neuen Gutachter bestellt? Gercke sagt, genau wisse er es auch nicht. "Es ist vielleicht wie bei einem Auto, das man zehnmal zur Reparatur bringt. Immer in der Hoffnung, dass es diesmal funktioniert. Und ganz zum Schluss merkt man, dass man besser gleich ein neues gekauft hätte."

Dafür ist es jetzt zu spät. Eine neue Anklage verbietet das Gesetz, die Staatsanwaltschaft wird den Beschluss aber vor dem OLG anfechten. Dazu hat ihr auch die Ministerpräsidentin geraten. "Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das Oberlandesgericht die Durchführung des Hauptverfahrens anordnen wird", sagt ihr Sprecher.

Es war im Loveparade-Verfahren viel von politischem Druck die Rede, Innenminister Ralf Jäger (SPD) hatte den Anfang gemacht und die Polizei gleich von jeglicher Schuld befreit. Die Beamten hätten alles richtig gemacht, sagte er unmittelbar nach der Katastrophe. Die Staatsanwaltschaft sah das genauso und zählte keinen Polizisten zu den Angeklagten, obwohl es Indizien gab, dass die Polizei durch fehlende Kommunikation und die Errichtung von Polizeiketten einiges dafür getan hatte, dass die Katastrophe eintrat.

Die Staatsanwaltschaft sah das anders - was nun auch das Gericht kritisierte. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Polizeiketten Einfluss "auf das Entstehen der Menschenverdichtung" hatten. Die Staatsanwaltschaft, so die Richter, hätte viel breiter ermitteln müssen. Die Ermittler hätten es versäumt, "sämtliche andere mögliche Unglücksursachen, insbesondere Handlungen der die Veranstaltung vor Ort begleitenden Personen" genauer zu untersuchen. Das Gericht hatte noch 75 Nachfragen an Gutachter Still geschickt, mehr könne man nicht machen, so die Richter. "Es obliegt nicht dem Gericht, - hier fehlende - wesentliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachzuholen."

© SZ vom 06.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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