Gastkommentar:Frieden statt Recht?

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Der Friedensschluss im kolumbianischen Bürgerkrieg hat immense internationale Bedeutung. Auch wenn die Behandlung der Kriegsverbrecher umstritten ist, war es richtig, den Kompromiss zu schließen

Von Claus Kress

Über ein halbes Jahrhundert lang hat ein grausamer Bürgerkrieg Kolumbien heimgesucht. Weit mehr als sieben Millionen Menschen sollen Opfer des Konflikts geworden sein. Nun haben Regierung und Farc-Rebellen nach jahrelangen Verhandlungen den Weg zum Frieden geebnet. Das Friedensabkommen ist ambitioniert: Es sieht ein umfassendes System von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung vor. Das entsprechende Kapitel liest sich fast wie ein Lehrbuch zur Übergangsjustiz. Doch der Umgang mit den Hauptverantwortlichen für schwere Verbrechen ist umstritten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch etwa fragt kritisch, ob hier nicht die Strafgerechtigkeit auf dem Altar des Friedens geopfert wird.

Jahrhundertelang hätte ein solcher Einwand überrascht. "Beiderseits sei immerwährendes Vergessen und Amnestie", hieß es im Westfälischen Frieden von 1648; der Grundsatz war europäische Praxis bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Doch seither hat sich im Völkerrecht eine bemerkenswerte Wende vollzogen. Danach ist Versöhnung auf Grundlage der Amnestie für schwerste Verbrechen nicht zu erreichen. Auch hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Straflosigkeit dem nächsten schweren Unrecht den Boden bereitet. In der Präambel des Gründungsvertrags über den Internationalen Strafgerichtshof bekräftigten die Staaten 1998 sogar ihre Pflicht, internationale Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Zu diesen Völkerstraftaten zählen Bürgerkriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so wie sie während des kolumbianischen Bürgerkriegs auf beiden Seiten begangen worden sein sollen.

Straflosigkeit kann den Boden bereiten für die nächsten schweren Verbrechen

Den Rebellen werden neben der Massentötung von Zivilisten sexuelle Gewalt, Geiselnahmen und zwangsweise Umsiedlungen vorgeworfen. Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte sollen Tausende Zivilisten getötet haben, um diese Toten dann als militärische Erfolge auszugeben. Unterstützung habe das Militär von paramilitärischen Gruppen erhalten, die ihrerseits für massive Gewalt gegen Zivilisten verantwortlich sein sollen.

Nun stellt das kolumbianische Friedensabkommen den Völkerstraftätern glücklicherweise keine Amnestie in Aussicht - hier mögen neben der Ablehnung eines großen Teils der Kolumbianer auch die Vorermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof gewirkt haben. Doch immerhin entspricht das Abkommen der Kernforderung der Rebellen, dass keiner sich wegen einer Völkerstraftat wird ins Gefängnis begeben müssen. Stattdessen sollen auch die Hauptverantwortlichen in den Genuss "alternativer Sanktionen" kommen, falls sie sich rechtzeitig und umfassend zu ihrer Schuld bekennen. Während eines Zeitraums von fünf bis acht Jahren sollen sie Arbeiten verrichten, die zur Wiedergutmachung oder sonst zur Konsolidierung des Friedens beitragen.

Erfüllt Kolumbien mit dieser Regelung seine völkerrechtliche Pflicht zur Verfolgung von Völkerstraftaten? Und wird der Internationale Strafgerichtshof die vereinbarten Alternativen als ausreichend ansehen, und deshalb von einem internationalen Strafverfahren absehen? Die Antworten sind weit über den Fall Kolumbien hinaus von Bedeutung, und sie liegen nicht auf der Hand. Die kolumbianischen Bürgerkriegsparteien sind der Überzeugung, mit ihrem Kompromiss zu einer besonders konstruktiven Form der Strafe gefunden zu haben. Hiermit werde Kolumbien seine Strafpflicht erfüllen und zugleich ein Eingreifen des Internationalen Strafgerichtshofs entbehrlich machen. Diese Argumentation trägt, wenn die alternativen Sanktionen den Zielen einer Strafe gebührend Rechnung tragen. Wie die Dinge im Fall Kolumbien liegen, wird die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs erst sagen wollen, wenn sie die noch festzulegende Beschränkung der Freizügigkeit kennt, mit denen die "sozialnützlichen Arbeiten" verbunden sein werden: Je schonender die alternativen Sanktionen, umso schwieriger deren Rechtfertigung als noch angemessene Strafe.

Auch in Südafrika gingen die Verantwortlichen für die Apartheid straflos aus

Doch lässt sich das kolumbianische Modell der Übergangsjustiz auch absichern, wenn sich herausstellen sollte, dass es hinter den Anforderungen der Strafgerechtigkeit teilweise zurückbleibt. Das Gebot der internationalen Strafgerechtigkeit ist keine starre Regel, sondern ein Prinzip des Völkerrechts, das einer Abwägung mit den Erfordernissen des inneren Friedens zugänglich ist. Insbesondere der Fall Südafrika hat dies gezeigt. Südafrika wurde international nicht kritisiert, obgleich es im Dienste eines friedlichen Systemwechsels auf die Strafverfolgung der für die Apartheid Hauptverantwortlichen verzichtete, wenn sie für ihre persönliche Verantwortung einstanden.

Dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte könnte der Fall Kolumbien die Möglichkeit eröffnen, seine rigorose Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte zu überprüfen. Der seinerzeitige Präsident dieses Gerichtshofs hat bereits 2012 anerkannt, dass verschiedene Modelle einer Übergangsjustiz möglich sind, um einen Bürgerkrieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Ein Verhandlungsfrieden sei einem Vernichtungsfrieden moralisch und politisch überlegen. Auch aus der Warte des internationalen Menschenrechtsschutzes sei daher eine Pflicht des Staates anzuerkennen, einen Verhandlungsfrieden anzustreben.

Dieses nachdenkliche richterliche Votum prägt das kolumbianische Modell der Übergangsjustiz bis in einzelne Formulierungen hinein. Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs sollte sich diesen Erwägungen öffnen. Hierzu müsste sie abweichend von ihrer bisherigen Linie anerkennen, dass die Wiederherstellung von Frieden auf dem Verhandlungswege ein Gebot der Gerechtigkeit sein kann, dessen Erfüllung es erlaubt, bei der Strafgerechtigkeit Abstriche zu machen. Die Chefanklägerin würde die Entscheidung darüber lieber dem UN-Sicherheitsrat überlassen. Doch diesem fehlt es an einer entsprechenden Befugnis. Immerhin könnte der Sicherheitsrat der Chefanklägerin ein wenig Last von den Schultern nehmen, in dem er das kolumbianische Friedensabkommen begrüßt.

Man muss sie nicht beschreien, aber auszuschließen ist die Möglichkeit nicht, dass sich das vom kolumbianischen Modell der Übergangsjustiz ausgehende völkerstrafrechtliche Signal am Ende als beklagenswert schwach erweisen wird - für die Opfer der im Bürgerkrieg begangenen Verbrechen und für die Geltungskraft der Völkerrechtsnormen in der Zukunft. Dennoch wäre Kolumbiens Entscheidung für einen Verhandlungsfrieden richtig. Justiz im Übergang von Krieg zu Frieden bedeutet Rechtsdurchsetzung in unwegsamem Gelände, und das Völkerstrafrecht hat mit solchen nicht-idealen Bedingungen nicht selten sein Auskommen zu finden.

Kolumbien stehen aufregende Wochen bevor. Ein letztes Zugeständnis an die Rebellen hat die kurzfristige Befassung des Parlaments erforderlich gemacht, und die Verhandlungsführer der Farc müssen die Zustimmung der Guerilla zum Verhandlungsergebnis einholen. Verläuft hier alles nach Plan, soll das Abkommen am 23. September unterzeichnet werden. Die höchste Hürde wäre indessen erst danach zu nehmen. Anfang Oktober ist das Volk aufgerufen, in einer Volksabstimmung über den Friedensschluss zu entscheiden - nach den letzten Umfragen mit ungewissem Ausgang. Der steinige Weg zum tatsächlichen Frieden beginnt erst danach.

Claus Kreß , 50, ist Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und lehrt deutsches und internationales Strafrecht an der Universität Köln.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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