Gastkommentar:Die Welt ist nicht mehr heilig

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(Foto: N/A)

Im kommenden Jahr feiern die evangelischen Kirchen 500 Jahre Reformation. Warum auch säkulare Menschen Anlass haben mitzumachen.

Von Carlos Eire

Martin Luther war nicht der erste Dissident in der Geschichte des Westens, der die Macht des Papstes in Rom infrage stellte. Aber er war der erste, der dies mit Erfolg tat. Und genau das sichert ihm seinen einzigartigen Platz in der Geschichte. Seine Reformation jährt sich am 31. Oktober 2017 zum 500. Mal. Es gibt viele Gründe, dieses sogenannte Luther-Jahr angemessen zu würdigen.

Als Luther 1484 geboren wurde, gehörten alle Westeuropäer einer Kirche und einem Glauben an. Als er 1546 starb, war die Welt aufgeteilt in viele verschiedene Kirchen, die alle miteinander konkurrierten. Religiöse Uniformität war durch religiösen Pluralismus ersetzt worden. Luthers Erfolg kann zum Teil auf seine starke Persönlichkeit zurückgeführt werden. Im Jahr 1521, nachdem er vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser für vogelfrei erklärt worden war, sagte er zu einem seiner katholischen Gegner: "Ich geb mich für keinen Engel aus: Aber meine Lehre, dieweil ich weiss, dass sie nich mein, sondern Gottes ist, will ich niemand unverantwortet lassen antasten."

Luther schuldete seinen Ruhm aber auch einem einzigartigen Zusammentreffen sozialer Bedingungen und politischer Umstände. Luther hätte Papst und Kaiser nicht herausfordern können ohne die Unterstützung Friedrichs des Weisen von Sachsen, der ihn vor allen seinen Feinden abschirmte. Andere deutsche Fürsten und die Bürger der freien Reichsstädte, die unabhängig von Rom und vom Kaiser sein wollten, schlossen sich schnell Luther und Friedrich an; sie formten so eine neue Kirche und eine machtvolle militärische Allianz.

Der schnelle Fortschritt der Lutheraner wurde vor allem durch zwei Faktoren ermöglicht. Das eine war die relative Schwäche Kaiser Karls V. im Verhältnis zu den verschiedenen Einzelstaaten, die das Heilige Römische Reich formten. Der andere Faktor war die Erfindung der Druckerpresse, die es ermöglichte, Ideen zu verbreiten, nicht nur in Sachsen und Deutschland, sondern auf dem ganzen Kontinent.

Luthers Reformation war eine Revolution, die über die Religion hinausging und Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur erfasste. Wie alle Revolutionäre zerstörte Luther, um etwas Neues zu bauen. Dank ihm hörte der Klerus auf, eine eigene Klasse zu sein, dessen Angehörige wurden normale Bürger, für die die gleichen Gesetze und Steuern galten wie für alle anderen; sie konnten heiraten und Kinder bekommen. Das Mönchstum wurde abgeschafft, die Heiligen, ihre Bilder und Reliquien wurde nicht mehr verehrt, Wallfahrten gab es nicht mehr und der Glaube an Wunder ließ nach. Latein wurde als Sprache der Kirche durch Deutsch ersetzt, die Bibel ins Deutsche übersetzt und alle Laien wurden ermutigt, sie zu lesen. Fasten oder der regelmäßige Verzicht auf Fleisch waren nicht mehr nötig. Das Fegefeuer verschwand ebenso, wie es die Gebete und Messen für die Toten taten. Die Kirche verlor ihren Anspruch, über dem Staat zu stehen. Heute würden viele sagen, dass die neue Religion "moderner" war als die alte.

Trotzdem kann man Luther nicht alle Veränderungen zuschreiben, die im 16. Jahrhundert stattfanden. Auch wenn er der Erste war, der mit Erfolg den Papst herausforderte, so war er doch nicht der Einzige oder auch nur der Bedeutendste, der langfristig Erfolg haben sollte. Ulrich Zwingli - gleichen Alters wie Luther - verwirklichte seine eigene Reformation in der Schweiz und etablierte eine eigene protestantische Tradition, die, vor allem durch seinen Schüler Jean Calvin, einen enormen Einfluss in Frankreich, den Niederlanden, Schottland, England und Nordamerika haben sollte. Die radikalen Wiedertäufer und Spiritualisten forderten nicht nur den Papst, sondern auch Luther, Zwingli und Calvin heraus. Ihr Widerstand gegen die Vermengung von Staat und Kirche und der Unterdrückung des Gewissens lässt sie moderner erscheinen als die anderen Reformer der damaligen Zeit, Luther eingeschlossen.

Der Reformator Luther hatte seine dunklen Seiten. Als die deutschen Bauern 1524/25 rebellierten und sich in ihrem Verlangen nach Freiheit auf die Bibel und Luther selbst beriefen, stellte er sich auf die Seite ihrer Grundherren und forderte Fürsten und Ritter auf, so viele Aufständische wie möglich abzuschlachten: "D rum soll hier zuschmeißen, wurgen und stechen, heimlich oder offentlich, wer da kann, und gedenken, daß nichts Giftigers, Schädlichers, Teuflischers sein kann denn ein aufruhrischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlahen muß." Die DDR verehrte einst den Bauernführer Thomas Müntzer als größten Helden der sogenannten Frühbürgerlichen Revolution und verurteilte Luther als deren größten Bösewicht.

Luther hatte auch Widerliches zu sagen über Juden, im Prinzip weil sie sich weigerten, seine Neuinterpretation des Christentums zu akzeptieren und zu konvertieren. In späteren Jahren sind seine Angriffe auf die Juden dann angefüllt mit einer kruden Mischung aus xenophoben und theologischen Invektiven. In seinem Traktat "Von den Juden und ihren Lügen", das den Nazis einmal sehr wichtig sein sollte, sprach Luther von den Juden als "giftige, gehässige Würmer" und forderte, dass Synagogen niedergebrannt werden sollten, ebenso wie Gebetsbücher und Wohnungen, dass das Eigentum der Juden konfisziert werden sollte und sie selbst versklavt oder aus Deutschland ausgewiesen werden sollten.

Ironischerweise war es gerade Luther, der den Säkularismus möglich machte

Ungeachtet dieser dunklen Seite ist Luthers Erbe noch lebendig. Man muss sich gar nicht als Lutheraner bekennen, um von Luther beeinflusst zu sein. Die moderne, pluralistische Welt wurde auch von ihm mit geschaffen. Luther setzte Umwälzungen in Gang, die zur Entheiligung der Welt führten. Erstens trennten er und andere Reformatoren die geistliche und die materielle Welt, indem sie die Gegenstände reduzierten, die man anbeten konnte. Zweitens öffneten die Protestanten die Kluft zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, indem sie Wunder ebenso negierten wie die Möglichkeit, sich in mystischer Ekstase mit Gott zu vereinen. Drittens ordneten sie das Verhältnis von irdischer Zeit und Ewigkeit, von Lebenden und Toten neu. Die Heiligen im Himmel konnten nicht mehr um Hilfe angerufen, den Seelen der Verstorbenen im Fegefeuer nicht mehr durch Gebete geholfen werden. Diese drei Veränderungen im Denken und Handeln begrenzten die Rolle der Religion auf Erden.

Nach mehreren Jahrhunderten wurden die religiösen Spaltungen und die Gewalt, welche die Reformation ausgelöst hatte, schließlich nicht mehr tragbar. Es begann der Aufstieg von Skeptizismus und Säkularismus, ebenso der Wunsch nach Toleranz und Diversität. Dies kennzeichnet heute westliche Gesellschaften und steht in scharfem Gegensatz zu jener radikalen Religiosität, die derzeit wieder die Welt heimsucht. Ironischerweise sind es gerade diese Charakteristika des Westens, die das eigentliche Erbe Luthers ausmachen, jenes Reformators, der die religiöse Einheit seiner Zeit beendete.

Carlos Eire , 65, ist Professor für Geschichte und religiöse Studien an der Yale-Universität. Seine Erinnerungen sind unter dem Titel "Warten auf Schnee in Havanna" auch auf Deutsch erschienen (2003). Übersetzung: Nikolaus Piper.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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