Gastkommentar:Die unmögliche Insel

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Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Durch den Fußball und die Panama-Papiere hat Island globale Prominenz erlangt. Das Land wird von kreativen Menschen und einem miserablen politischen System geprägt.

Von Steinunn Sigurdardóttir

Es sieht so aus, als hätte meine Insel ein massiver Drang gepackt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Insel, die gar nicht so klein ist wie manche denken, sondern sehr groß. Allerdings mit nur drei Einwohnern und fünf Schafen pro Quadratkilometer. Wenn sie nicht gerade mit der Asche aus dem Eyjafjallajökull den Flugverkehr auf der ganzen Welt lahmlegt, löst sie einen spektakulären Bankencrash aus oder kommt prominent in den Panama-Papieren vor. Wenig später - quasi als Schadenersatz - mischen isländische Fußballer die Europameisterschaft auf und werden zu Lieblingen der Sportjournalisten. So gesehen richtet sich die Aufmerksamkeit aus ganz unterschiedlichen Gründen auf diese Insel. Das passt zu einem Phänomen, das allgemein als typisch isländisch gilt: Gegensätze. Feuer und Eis eben.

In einem Facebook-Eintrag schrieb kürzlich Jón Óskar, einer der bekanntesten isländischen Künstler, auf Island gebe es die weltweit schlimmsten Politiker und gleichzeitig die besten Künstler. Das erinnert an eine Äußerung von W.H. Auden, der die isländischen Sagas hoch schätzte: Die Sagas seien fantastisch, die isländische Gesellschaft aber sei entsetzlich. Damit verwies er auf die blutigen Fehden, die sich wie ein roter Faden durch die mittelalterliche Literatur ziehen. Bis die Isländer schließlich nicht mehr imstande waren, sich selber zu regieren, und einen Pakt mit dem norwegischen König schließen mussten.

Für den früheren Chefredakteur der jahrzehntelang größten Zeitung in Island war die isländische Gesellschaft durch den Bankenskandal widerwärtig geworden. Und nicht nur dadurch. Inzwischen scheint es so zu sein, als risse meinen unerschütterlichen Landsleuten angesichts des politischen Geschachers der Geduldsfaden. Die isländischen Piraten lagen in diesem Jahr entweder an der Spitze der Meinungsumfragen oder knapp hinter der Unabhängigkeitspartei auf dem zweiten Platz. Der ehemalige Premierminister Sigmundur Gunnlaugsson, der wegen seiner Konten in Panama nicht nur in der Süddeutschen Zeitung Berühmtheit erlangte, ist nach seinem Rücktritt im April wieder auf den Plan getreten. Und erntet entsprechend viel Spott quer durch die sozialen Medien. Er will trotz der Panama-Häme unverdrossen weitermachen, obwohl seine sogenannte Fortschrittspartei dramatisch an Unterstützung verloren hat. Vor Kurzem erklärte er, es sei überhaupt nicht sicher, ob, wie vorgesehen, im Oktober Wahlen stattfinden würden, eine haltlose Behauptung.

Tatsächlich werden die Wahlen im Oktober stattfinden. Derartige Äußerungen zeugen jedoch von der in Island weitverbreiteten Geringschätzung, die nicht nur Politiker gewissen Spielregeln gegenüber an den Tag legen. Zwei konservative Parteien haben seit Gründung der Republik 1944 weitgehend die politische Landschaft bestimmt: die Fortschritts- und die Unabhängigkeitspartei. Diese beiden haben sich Riesenstücke aus dem isländischen Kuchen zugeschanzt - man sagt, dass die Fortschrittspartei die Insel bekommen hat, die Unabhängigkeitspartei die Fischgründe.

Im Vergleich zu den Künstlern weisen die derzeitigen Politiker einen beklagenswerten Mangel an Ideen, Kreativität und Zukunftsperspektiven auf. Isländische Künstler machen in der ganzen Welt von sich reden, während die Politiker an anachronistischen wirtschaftlichen Zielen festhalten. Sie wollen zum Beispiel weitermachen mit der Zerstörung der isländischen Natur, um billigen Strom für die ausländische Schwerindustrie anbieten zu können. Durch den florierenden Tourismus sind verstärkt Devisen ins Land gekommen, was geholfen hat, die Folgen des Bankencrashs zu tragen. Doch unsere Politiker können sich immer noch nicht entscheiden, ob sie Island als Naturparadies oder als Industrielandschaft vermarkten wollen. Nur allzu oft hört man die absurde Behauptung von Politikern und Vertretern des Energiesektors, dass beides nebeneinander möglich sei. Viele sind aber der Meinung, dass jetzt schon mehr als genug zerstört worden ist, und dass die isländische Natur geschützt werden muss.

Künstler sind nicht die Einzigen auf Island, die über die Eigenschaften verfügen, an denen es den Politikern mangelt: Initiative und Kreativität. Die Szene im Kunsthandwerk, im Design und in der Cuisine ist ungemein spannend. Neulich habe ich auf dem Flug nach Basel von einem so futuristischen Fischgericht erfahren, dass ich es ganz sicher auszuprobieren werde, wenn ich das nächste Mal nach Island komme: gegrillter Dorschkopf. Der Dorsch wird üblicherweise im Isländischen als Zutat zu herabsetzenden Äußerungen verwendet, allen voran der "Dorschkopf". Auch wenn man über die Schönheit eines Dorschkopfs geteilter Meinung sein kann, es wäre rein sprachlich gesehen ein riskantes Unterfangen, einen Gast mit einem Dorschkopf zu konfrontieren.

Bewundernswert ist auch, was für kreative Kräfte der Tourismus bei den Menschen auf dem Land freigesetzt hat. Man möchte fast glauben, so ein isländischer Schafsbauer oder Milchbauer habe nie etwas anderes gemacht als angenehme Übernachtungsmöglichkeiten für Reisende anzubieten und sie zu betreiben.

Freunde von mir auf einem Hof in der Nähe von Kirkjubæjarklaustur standen kurz davor, ihren Hof zu verkaufen, doch nach dem Bankencrash 2008 war an Verkauf nicht mehr zu denken. Stattdessen verwandelten sie den Kuhstall in ein respektables Gästehaus, bauten einen verglasten Frühstücksraum mit Blick auf den Vatnajökull an - eine großartige Möglichkeit für Reisende, auf einem Bauernhof zu übernachten. Der frühere Bauer errichtete sogar eine stattliche stählerne Fußgängerbrücke über den Gletscherfluss, der am Rand der Heuwiese entlang fließt, damit Reisende in das riesige Lavagebiet jenseits des Flusses gelangen können. Bislang konnte es nur von Vögeln erreicht werden.

Wie viele meiner Landleute bin ich stolz darauf, wenn sich ausländische Gäste von Island faszinieren lassen. Wie dankbar und froh sie sind, die Landschaft und das Licht auf dieser wildromantischen Insel erleben zu dürfen, die nur etwa drei Flugstunden von London, Paris oder Berlin entfernt ist. Es ist allerdings auch ein nicht geringer Anlass zur Sorge, dass derzeit noch kaum jemand darüber nachdenkt, wie man den wachsenden Touristenstrom in einer extrem empfindlichen Natur in nachhaltige Bahnen lenken kann. Die Folgen sieht man weithin, und die bereits entstandenen Schäden können nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das ist ein weiteres Beispiel für die gefährliche Kurzsichtigkeit isländischer Behörden, und für den landläufigen Mangel an Spielregeln oder für die Missachtung von Spielregeln, die auf meiner Insel gelten sollten.

Steinunn Sigurðardóttir, 65, zählt zu den wichtigsten Autoren moderner isländischer Literatur. Einige ihrer Romane, etwa "Herzort" und "Sonnenscheinpferd", sind auf Deutsch erschienen. Sie lebt heute in Straßburg. Aus dem Isländischen von Coletta Bürling.

© SZ vom 20.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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