Gastkommentar:Ab in die Paartherapie

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Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: Bernd Schifferdecker)

Szenen einer miesen Ehe: Großbritannien kann weder mit noch ohne Europa. Eine Scheidung wäre trotzdem keine Lösung. Es gibt bessere Alternativen.

Von Dennis Snower

Eine Frau ist in einer lieblosen Ehe gefangen, die ihr und ihrem Mann jedoch große wirtschaftliche Vorteile bringt. Ihr Mann arbeitet mit vielen seiner Verwandten in einem großen Familienunternehmen. Dort gibt es zwar viel Streit, aber auch stets die Suche nach gemeinsamer Identität. Die Frau möchte damit nichts zu tun haben und denkt darüber nach, ihren Mann zu verlassen. Das Problem: Er ist in der Lage, die Bedingungen einer Scheidung zu diktieren. Sie denkt sich, dass eine Scheidung drei mögliche Folgen haben könnte. Erstens: Ihr Mann rächt sich und stürzt beide ins Unglück. Zweitens: Es folgt zwar eine schwierige Zeit, aus der sie aber gestärkt hervorgehen wird. Drittens: Ihr Mann räumt ihr mehr Freiheiten ein, sodass sie weiter wirtschaftlich von der Ehe profitiert, ohne Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.

Die Frau ist Großbritannien, ihr Mann und seine Verwandten sind die EU - und die Scheidung wäre der Brexit, für den Kommentatoren drei Szenarien entworfen haben: Großbritannien könnte wirtschaftlichen und politischen Schaden nehmen; dem Land könnte eine schwierige Phase bevorstehen, aus der es wettbewerbsfähiger hervorgeht; oder es bekäme gute Austrittsbedingungen von der EU, wäre von den Regulierungen befreit und würde florieren. Was sollten die Briten tun?

Zunächst muss man zugeben, dass es sich in der Tat um eine lieblose Ehe handelt - und dass es keine einfachen Lösungen gibt. Die Euro-Zone ist zu einer engeren politischen Verbindung geworden, was unvermeidlich war. Ein gemeinsamer Währungsraum wäre ohne signifikante Koordination der Fiskalpolitik und eine bessere Strukturpolitik nicht nachhaltig, weil die Mitglieder sonst Gefahr laufen, wirtschaftlich immer stärker auseinanderzudriften. Es wird daher eher noch mehr politische Integration geben müssen. Großbritannien sieht diese Entwicklung kritisch. Weil das Land der Euro-Zone nicht angehört, hat es auch kein Interesse an einer Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In absehbarer Zeit wird es auf beiden Seiten keinen kompletten Sinneswandel geben. In der EU zu bleiben wäre also weiterhin unerfreulich für viele Briten.

Briten hoffen auf mehr Souveränität außerhalb der EU - eine große Illusion

Doch dass es drei Szenarien für den Fall eines Brexit geben würde, ist eine Selbsttäuschung der Briten: dass die EU Großbritannien ziehen lässt, dem Land aber weiter wirtschaftliche Vorteile gewähren würde, ist eine Illusion. Die EU müsste ein Exempel statuieren, um andere vom Verlassen der Union abzuschrecken. Und auch das zweite Szenario, dass Großbritannien zwar nach dem Brexit eine schwierige Phase durchlaufen müsste, aber gestärkt daraus hervorgehen würde, ist unrealistisch. Der politische und wirtschaftliche Schaden wäre unumkehrbar.

Großbritannien würde zudem seine Souveränität außerhalb der EU gar nicht stärken. Etwa die Hälfte der britischen Exporte gehen in die EU, das Land ist somit auf den freien Zugang zum Binnenmarkt angewiesen. Das geht nur, wenn EU-Regulierungen akzeptiert und Beiträge zum EU-Budget geleistet werden. Das zeigen die Beispiele Norwegens und der Schweiz sehr eindrucksvoll - Norwegens Pro-Kopf-Beitrag zum EU-Haushalt ist heute fast so hoch wie der Großbritanniens. Politisch würde der Brexit Großbritannien wie auch die EU schwächen: Schottlands Streben nach Unabhängigkeit bekäme Auftrieb, Finanzunternehmen würden London den Rücken kehren. Die EU würde ihre stärkste Militärmacht verlieren und wäre außenpolitisch wie auch innerhalb der Nato geschwächt. Kurz: Es wäre zwar unbequem für beide Seiten, wenn Großbritannien in der EU bleibt. Aber der Brexit wäre ein Desaster. Wo also ist der Ausweg?

Die Antwort ist dieselbe wie in jeder lieblosen Ehe, in der die Partner untrennbar miteinander verbunden sind, aber widersprüchliche Ansichten haben: Beide müssen ihre Ansprüche verändern und Kompromisse eingehen, um eine sinnvollere Beziehung zu finden, von der beide profitieren. Die derzeitigen Visionen Europas - Brüssels Ansatz einer engeren politischen Union und die britische Idee von der EU als bessere Freihandelszone - sind unhaltbar. Die derzeitigen EU-Institutionen sind nicht nachhaltig, wie die Flüchtlingskrise zeigt. Die politische Integration funktioniert nicht, die wirtschaftliche ist ins Stocken geraten. So kann die EU nicht überleben. Zugleich hat Großbritanniens Vision von der EU als Freihandelszone nichts mit der Realitäten zu tun. Beide Seiten haben Fehler gemacht - jetzt ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, was eigentlich der europäische Traum ist. Dabei sollte man sich an jenen Idealen orientieren, welche die Gründerväter des europäischen Projekts nach dem Zweiten Weltkrieg hatten: die Vision Europas als offene, tolerante Gemeinschaft, die ihren Bewohnern Frieden und Wohlstand bringt. Wie lässt sich das erreichen? Die jüngsten Konflikte in der EU um die Euro-Rettung oder die Flüchtlingspolitik haben gezeigt, dass politische Integration ohne vorherige soziale Integration unmöglich ist.

In der EU zu leben bedeutet, nationale Interessen zurückzustellen. Aber das werden die EU-Bürger nicht wollen, bevor sie einen größeren sozialen Zusammenhalt erreicht haben. Die Europäer müssen eine europäische Identität entwickeln, ohne dabei die nationalen und kulturellen Identitäten aufzugeben. Um diese Identität aufbauen zu können, muss es mehr Möglichkeiten für soziale Interaktion von Europäern unterschiedlichen nationalen, kulturellen und sozialen Hintergrunds geben.

Nur wenn die Europäer sich als ein "Wir" empfinden, ist mehr Integration möglich

Die EU hat sich bislang vor allem der politischen Integration gewidmet. Jetzt ist es an der Zeit, durch gemeinsame Bildung, Arbeitsmarktpolitik und kulturellen Austausch für mehr sozialen Zusammenhalt zu sorgen. Sobald die Europäer sich wirklich als "wir" wahrnehmen, gibt es die Chance für eine gemeinsame Vision, welche die Erwartungen miteinander verknüpft und genügend sozialen Nutzen erzeugt, dass Europäer bereit sind, dafür weniger Souveränität zu akzeptieren.

Eine weitergehende politische Integration muss auf die soziale Integration folgen - nicht umgekehrt. Das kann nicht funktionieren, wenn Großbritannien auf Ausnahmeregelungen pocht. Es kann auch nicht funktionieren, wenn man Populisten vom rechten wie linken Ufer nachgibt und nationalistische oder protektionistische Forderungen erfüllt. Europa braucht die Bereitschaft, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Das ist sicher ambitioniert - aber auch nicht ambitionierter, als es jener Teil des Weges war, den Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bereits gegangen ist.

Dennis Snower , 65, ist Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und des Global Economic Symposiums.

© SZ vom 26.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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