Gastbeitrag:Der schöne Tod

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Ein Blick in die Geschichte zeigt: Bei Despoten wie Kim Jong-un kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie der Wunsch zu überleben vom Schlimmsten abhält. Wem selbst die Zukunft des eigenen Volkes gleichgültig ist, bei dem wirkt Abschreckung nicht mehr. Das macht es so schwer, mit Kim Jong-un umzugehen.

Von Michael Rühle

Die jüngste Eskalation in der Dauerkrise um die Atomwaffen Nordkoreas zeigt, wie gespannt die Lage in Ostasien ist. Der Tenor der Debatte im Westen heißt trotzdem: Entwarnung. Kim Jong-un, so heißt es, sei kein Selbstmörder. Mit seiner Politik verfolge er durchaus rationale Ziele: das eigenen Regime erhalten, die USA von einem Angriff abschrecken und international als Nuklearmacht anerkannt werden. Mit anderen Worten: Ungeachtet seiner Methoden und der Rhetorik bleibe Kim Jong-un im Grunde rational - und sei folglich auch abzuschrecken.

Doch wie realistisch ist die Annahme wirklich, dass die Aussicht auf nukleare Vergeltung das Regime in Pjöngjang von militärischen Abenteuern abhalten kann? In der Geschichte gab es viele Situationen, in denen die Beteiligten keineswegs so rational handelten, wie es für ein stabiles Abschreckungssystem erforderlich ist. Dies galt nicht nur für die vor-nukleare Zeit. Auch im Atomzeitalter gab es immer wieder Vorfälle, in denen selbst die Aussicht auf den sicheren Tod keine abschreckende Wirkung hatte.

Für den japanischen Heeresminister, General Korechika Anami, war der drohende Untergang seines Volkes jedenfalls kein Grund, um aufzugeben. Selbst nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 versuchte er, seine Regierung davon zu überzeugen, dass der Krieg fortgesetzt werden müsse. Anami rief zu "einer letzten großen Schlacht" auf - "wie es die nationale Ehre verlangt". "Wäre es nicht wunderbar", so Anami, "wenn die ganze japanische Nation wie eine schöne Blume zugrunde gehen würde?" Nachdem der Kaiser die Kapitulation befohlen hatte, beging Anami rituellen Selbstmord.

Die Kubakrise von 1962 gilt weithin als Beleg für das Funktionieren nuklearer Abschreckung. Die Sowjetunion hatte durch die Verlegung nuklearer Mittelstreckenraketen nach Kuba hoch gepokert, doch das Risiko eines Nuklearkrieges zwang Moskau wie Washington zur Deeskalation. Dies ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Während der Krise forderten Fidel Castro und Che Guevara von Moskau, im Falle eines konventionellen Angriffs der USA einen "vorbeugenden Nuklearschlag" gegen das amerikanische Festland durchzuführen - "unabhängig davon, wie hart und grausam diese Lösung sein wird" (Castro).

Der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident, Anastas Mikojan, hatte dafür nur Verachtung übrig: "Wir sehen eure Bereitschaft, einen heldenhaft schönen Tod zu sterben. Wir sind allerdings der Meinung, dass es keinen Grund gibt, einfach nur in Schönheit sterben zu wollen." Castro selbst hat dem früheren US-Verteidigungsminister McNamara später bestätigt, dass er entschlossen gewesen sei, Nuklearwaffen gegen die USA einzusetzen - wohl wissend, dass Kuba anschließend "völlig zerstört worden wäre".

Die Rettung der Ehre als Motiv für militärische Abenteuer ist auch im Nahen Osten nicht unbekannt. Syrien und Ägypten griffen 1973 das militärisch weit überlegene und nuklear bewaffnete Israel an - nicht in der Hoffnung auf einen Sieg, sondern um die Schmach wiedergutzumachen, die seit der Niederlage im Sechs-Tage-Krieg von 1967 auf ihnen lastete. Für Israel hätte der Jom-Kippur-Krieg beinahe das Ende bedeutet. Im Vertrauen auf die eigene Stärke hatte man die militärischen Vorbereitungen des Gegners als bloße Drohgebärden interpretiert.

Wenn die Zukunft des eigenen Volkes gleichgültig wird, funktioniert Abschreckung nicht

Auch die Politik des irakischen Diktators Saddam Hussein trug häufig irrationale Züge. Von Anfang an plante er einen neuen Krieg gegen Israel. Dafür hätten jedoch Israels Atomwaffen neutralisiert werden müssen. Eine einzige Atombombe, die, so glaubte er, "unsere sowjetischen Freunde" liefern würde, sollte genügen, um das kleine Israel vom Einsatz seiner eigenen Nuklearwaffen abzuschrecken. Doch die erhoffte Lieferung aus Moskau blieb aus.

Saddam wollte sogar noch weiter gehen. Wie sein Schwiegersohn berichtete, hatte Saddam die Absicht, seine erste selbstgebaute Atomwaffe auf einem Lastwagen nach Kuwait bringen zu lassen, um sie dort zu zünden. Die Welt müsste dann zur Kenntnis nehmen, dass Saddam über Atomwaffen verfügte und auch bereit war, sie einzusetzen. Damit wären die Voraussetzungen geschaffen worden für einen "geduldigen" konventionellen Krieg gegen Israel. Einer seiner Generäle formulierte Saddams Gedankenwelt später so: "Sein Glaube ist der Krieg. Er kann ohne ihn nicht leben, denn nur er bringt Ruhm."

War es bei Saddam übersteigerter Nationalismus, so zeigte sich bei seinem Nachbarn Iran, wohin religiöser Fanatismus führen kann. Im Krieg mit dem Irak (1980-1988) schickten die Iraner Tausende von Kindern, mit einem Plastikschlüssel für die Pforte des Paradieses um den Hals, in die Minenfelder, um sie zu räumen. Viele der irakischen Soldaten, die Zeuge des Gemetzels wurden, erlitten einen Schock. Ayatollah Chomeini lieferte die religiöse Rechtfertigung des Opfertods: "Entweder schütteln wir uns in der Freude über den Sieg des Islam in der Welt die Hand, oder wir wählen alle das ewige Leben und das Märtyrertum. In beiden Fällen gehört uns Sieg und Erfolg."

Die Erkenntnis ist eindeutig: Bei fanatisierten Nationalisten, von Hass getriebenen Ideologen oder religiösen Eiferern hat ein Abschreckungskonzept, das auf Drohung mit Vernichtung setzt, kaum oder keine Wirkung. Für denjenigen, für den es höhere Ziele gibt als die Erhaltung des eigenen Lebens oder gar das seines Volkes, ist eine nukleare Vergeltungsdrohung bedeutungslos.

Das alles führt nicht zwingend zu dem Schluss, dass Nordkorea nicht abschreckbar ist. Es macht aber deutlich, warum man in den USA, in dessen strategischem Diskurs die Kubakrise oder Saddam Husseins nukleare Eskapaden noch immer präsent sind, die Drohungen Kim Jong- uns nicht auf die leichte Schulter nimmt.

Michael Rühle , 57, leitet bei der Nato das Referat für Energiesicherheit in der Abteilung für neue Sicherheitsherausforderungen. Er gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

© SZ vom 19.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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