Frankreich:Leben und sterben lassen

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Gerichtshof für Menschenrechte: Wachkoma-Patient soll nicht länger künstlich ernährt werden.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Das Schicksal des Vincent Lambert hat seine Familie in zwei Lager zerrissen, es hat die französische Öffentlichkeit gespalten und nun auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Große Kammer des Gerichtshofs hat, gegen das erbitterte Votum von fünf Richtern, eine Klage seiner Eltern abgewiesen: Die Ärzte dürfen den Koma-Patienten Lambert sterben lassen. (Az: 46043/14)

Es ist das erste Urteil des Gerichtshofs zur Frage, unter welchen Voraussetzungen lebenserhaltende Maßnahmen abgebrochen werden dürfen. Lambert, inzwischen 38 Jahre alt, hatte bei einem Motorradunfall im Jahr 2008 schwere Kopfverletzungen erlitten und liegt seither im Wachkoma. Sein Zustand ist stabil, aber hoffnungslos - das steht nach zahlreichen ärztlichen Untersuchungen fest. Zwar könnte er mithilfe einer Magensonde, die ihm Nahrung und Flüssigkeit zuführt, vermutlich noch jahrelang am Leben erhalten werden; seine Atmung funktioniert selbstständig, und er zeigt - nach Einschätzung der Ärzte allerdings unbewusste - Reaktionen auf äußere Reize. Sein Gehirn sei jedoch irreversibel geschädigt, schreibt das Gericht. Er befinde sich in einem "vegetativen Zustand", unfähig, mit der Außenwelt zu kommunizieren und ohne die geringsten Anzeichen eines funktionierende Bewusstseins.

Im emotional aufgeladenen Fall Lambert war 2013 erstmals in Frankreich ein Verfahren nach dem sogenannten Leonetti-Gesetz von 2005 in Gang gesetzt worden, das in engen Grenzen den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen erlaubt. Doch es entbrannte ein beispielloser Streit. Während Lamberts Ehefrau für den Abbruch plädierte, gelang es seinen Eltern mehrmals, die Fortsetzung der Nahrungszufuhr gerichtlich durchzusetzen. Bis vor einem Jahr das oberste französische Verwaltungsgericht schließlich die Entscheidung eines Ärztegremiums billigte, die künstliche Ernährung einzustellen. Die Eltern klagten umgehend beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, der das Verfahren mit hoher Priorität vorantrieb.

Die Französin Rachel Lambert arbeitet in der Krankenpflege, wie einst ihr Ehemann. (Foto: Patrick Hertzog/AFP)

In der zentralen Frage zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen lässt das Straßburger Urteil keinen Zweifel offen. Maßgeblich ist - wie übrigens auch im deutschen Recht - der Wille des Patienten. Zwar hatte Lambert keine klare Verfügung hinterlassen. Allerdings hatte seine Ehefrau detailliert geschildert, ihr Mann - wie sie ein gelernter Krankenpfleger und damit mit Fragen von Krankheit und Tod vertraut - habe immer wieder gesagt, in einem solchen Zustand nicht weiterleben zu wollen. "Vincent gehen zu lassen, ist mein letzter Liebesbeweis", sagte sie der Zeitung Le Monde. "Ich wusste, dass es ein Leben war, das er so nicht wollte." Mehrere seiner Geschwister hatten dies bestätigt. Und selbst seine streng katholischen Eltern, deren Klage offenkundig auch religiös motiviert war, hatten nicht von gegenteiligen Äußerungen berichtet. Sie wollen nun weitere Maßnahmen prüfen.

Klar ist jedenfalls: Ein Abbruch der Ernährung von Wachkoma-Patienten allein auf ärztliches Geheiß würde vom Straßburger Gerichtshof nicht gebilligt. Ausdrücklich würdigen die Richter die Entscheidung ihrer französischen Kollegen, wonach eine Einstellung der Ernährung ausscheidet, wenn der mutmaßliche Wunsch des Patienten gänzlich offengeblieben ist.

Hinzu kommt: Der Straßburger Gerichtshof, eine Institution des Europarats, gewährt den Staaten in Fragen des Behandlungsabbruchs einen großen Beurteilungsspielraum - weil in dieser Frage unter den 47 Mitgliedstaaten kein Konsens herrsche. Und die abweichende Meinung zum Straßburger Urteil deutet an, wie tief der Graben in solchen Fragen ist. Mit ungewöhnlicher Schärfe werfen fünf Richter ihren Kollegen einen Rückschritt beim Lebensschutz vor. Die beiläufigen Bemerkungen zur ärztlichen Behandlung in aussichtsloser Situation, die Lambert nach Angaben seiner Frau gemacht habe, dürften für eine Entscheidung von solcher Tragweite nicht ausreichen. Seinen Ehrentitel "Gewissen Europas" habe der Gerichtshof mit diesem Urteil verwirkt, kritisieren sie.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sprach dagegen von einer "guten und vernünftigen Entscheidung", die den Willen des Patienten zum entscheidenden Faktor mache - womit erneut die Wichtigkeit von Patientenverfügungen unterstrichen werde. Der Abbruch der Ernährung müsse aber unbedingt palliativ begleitet werden. Nur dann könne Vincent Lambert friedlich sterben.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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