Frankreich:Leben lassen, leben müssen

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Seit einem Motorradunfall liegt der Franzose Vincent Lambert im Wachkoma. Seine Familie streitet darüber, ob er künstlich am Leben erhalten wird oder sterben soll. Nun steht eine Entscheidung an.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

An diesem Donnerstag könnte das letzte Kapitel in der traurigen Geschichte von Vincent Lambert geschrieben werden. Die Ärzte der Universitätsklinik in Reims haben die Familie des 38 Jahre alten Franzosen zusammengerufen, der nach einem Motorradunfall seit sieben Jahren im Wachkoma liegt. Sie werden mitteilen, wie es weitergehen soll. Nach Lage der Dinge wollen sie die Behandlung einstellen, Vincent Lambert also sterben lassen, weil er ihrer Ansicht nach keine Aussicht auf ein menschenwürdiges Dasein mehr hat.

So könnte die Geschichte enden. Wer sie verfolgt hat, muss aber annehmen, dass sie vielleicht doch noch weitergeht. Denn sie handelt eben auch von einer zerrissenen Familie, deren zwei Hälften sich vor den Augen der Franzosen ein Tauziehen um Lamberts Leben liefern. Geführt wird der Kampf mit ärztlichen Gutachten, Interviews, Internet-Aufrufen, vor allem aber über die Gerichte. Durch alle französischen Instanzen wurde der Fall gezogen, danach ging es auf die europäische Ebene und wieder zurück auf die nationale. Jener Teil der Familie, der Vincent am Leben lassen möchte - das sind die streng katholischen Eltern, eine Schwester und ein Halbbruder -, will nicht aufgeben. Ihnen geht es wie der Gegenseite - Vincents Frau Rachel sowie sechs Geschwistern und Halbgeschwistern - um das Höchste: das Schicksal eines geliebten Menschen. Dass beide Seiten nur das Beste für Vincent wollen, macht es der Öffentlichkeit schwer, eindeutig Partei zu ergreifen.

Ihn gehen zu lassen, sei ein "letzter Liebesbeweis", sagt Lamberts Frau Rachel

Lambert, gelernter Psychiatrie-Pfleger, ist seit dem Unfall nicht nur querschnittsgelähmt, er erlitt auch irreversible Hirnverletzungen. Er atmet zwar ohne die Hilfe von Maschinen, bewegt die Augen und reagiert auf Schmerzen; wie viel er aber von seiner Umwelt wahrnimmt, ist unklar. Möglicherweise hat er ein "minimales Bewusstsein". Verschiedene Versuche, mit ihm zu kommunizieren, missglückten. Schlucken kann er nicht, deshalb wird er über eine Magensonde ernährt.

Sie wollen, dass Vincent Lambert weiter künstlich ernährt wird: Teilnehmer eines "Marschs für das Leben". (Foto: Bertrand Guay/AFP)

Weil die Ärzte wahrzunehmen glauben, dass sich der Patient gegen die künstliche Ernährung sträube, beschließen sie 2013, sie einzustellen. Sie berufen sich auf die seit 2005 existierende "Loi Leonetti". Das Gesetz erlaubt passive Sterbehilfe bei unheilbar Kranken, die sich nicht selbst äußern können und, wie Lambert, keine Patientenverfügung hinterlassen haben. Im Zweifel entscheidet ein Ärzte-Komitee. Aktive Sterbehilfe ist in Frankreich, wie in Deutschland, verboten.

Lamberts Frau begrüßt die Entscheidung. Es sei ein "letzter Liebesbeweis", ihn gehen zu lassen. Die Eltern jedoch zeigen sich empört; in ihren Augen ist Vincent nur behindert, nicht todkrank. Sie klagen, erhalten recht, Lambert muss weiter ernährt werden. Sein Arzt Eric Kariger lanciert eine öffentliche Kampagne, um sich zu wehren. Nach weiteren Untersuchungen will er Lambert ein zweites Mal sterben lassen, wird aber erneut vom Gericht gestoppt. Im Juni 2014 erklärt die höchste französische Instanz, der Staatsrat, die Sterbehilfe im Fall Lambert für rechtens.

Stunden später erlässt der von den Eltern angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine einstweilige Verfügung, im Juni 2015 bestätigt die Große Kammer in Straßburg das Urteil des Staatsrats. Getreu ihrer Linie, den Staaten bei schwierigen ethischen Fragen einen Spielraum zu lassen, nehmen die Richter nicht inhaltlich zur Sterbehilfe Stellung, sondern bezeugen nur, dass die französische Justiz korrekt gehandelt habe. In einem abweichenden Votum beklagen fünf Richter indes einen "Rückschritt" beim Schutz verletzlicher Personen. Ein Staat dürfe Ärzten nicht erlauben, einen Patienten verhungern zu lassen. Der Wunsch der Eltern auf eine Überprüfung des Urteils aufgrund neuer Erkenntnisse wird später abgelehnt.

Vincent Lambert, 38, liegt seit einem Unfall vor sieben Jahren im Wachkoma. Seine Angehörigen fragen sich: Ist sein Dasein menschenwürdig? (Foto: AFP/Familienbesitz)

Vincent gehe es eindeutig besser, beteuern die Eltern, und das meint auch ein Arzt ihres Vertrauens, der den Mann gerne in ein auf Komatöse spezialisiertes Krankenhaus im Elsass bringen würde. Für die Gegenseite spricht statt der Geschwister, die sich zurückgezogen haben, nun überwiegend ein Neffe Vincents, François Lambert. Es sei unerträglich, dass man seinen Onkel nicht sterben lasse, sagte er der Zeitung Libération. "Vincent hätte nie so leben wollen. Als Behinderter, wie Gemüse, niemals. Das entspricht nicht seiner Persönlichkeit." François hat seinem wenig erfolgreichen Leben mit diesem Kampf einen neuen Inhalt gegeben. Sogar ein Jura-Studium hat er aufgenommen, um den Eltern Paroli bieten zu können, die von der traditionalistischen Pius-Bruderschaft unterstützt werden und alle Sterbehilfe-Gegner im Rücken wissen.

Lamberts Arzt ist längst zurückgetreten, ihm war der Druck zu hoch. Seine Nachfolgerin Daniela Simon hat erneut die Prozedur eingeleitet, die das Sterbehilfe-Gesetz vorschreibt. Sie muss sich beeilen. Die Eltern haben nicht nur Ehefrau Rachel wegen falscher Zeugenaussage verklagt, sondern auch das Krankenhaus und die behandelnden Ärzte: wegen "falscher Behandlung" und "versuchten Mordes".

© SZ vom 23.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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