Frankreich:Gegen das Stigma

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Emmanuel Macron präsentiert seine Pläne. (Foto: Reuters)

Präsident Macron widmet sich den Jugendlichen der Banlieues: Unter anderem kündigt er 30 000 Praktikumsplätze für Bewohner der Vorstädte an.

Von Nadia Pantel, Paris

Die französische Politik findet häufig zärtliche Namen für ihre größten Probleme. Die Vorstädte, in denen Kleinstwohnungen zu Hochhäusern gestapelt werden und in denen nur jeder zweite Jugendliche Arbeit findet, heißen "Quartiers Prioritaires". Vorrangige Stadtviertel also. Bis 2015 sprach man noch von "Zones urbaines sensibles", empfindlichen urbanen Gebieten. Die Bewohner dieser Armutsviertel können sich ziemlich sicher sein, weder besonders sensibel behandelt zu werden, noch auf irgendeiner nationalen Agenda allzu hohe Priorität zu genießen.

Fünf Millionen Menschen leben in den französischen Banlieues, und das Land spricht meist nur dann über sie, wenn ihre elenden Lebensumstände Stoff für Schlagzeilen bieten. Wenn, wie am Montag in Marseille, Bandenmitglieder mit scharfer Munition um sich schießen. Oder wenn ein Politiker ein Ende der Misere verspricht. Nach einem Jahr im Amt nahm sich am Dienstag nun Präsident Emmanuel Macron der Banlieue-Frage an.

Der Staatschef entzog seinem Experten die Deutungshoheit

Für eine Mischung aus Konferenz, Bürgertreffpunkt und Ehrenempfang hatte er Hunderte Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft der Vorstädte in den Élyséepalast eingeladen. Die präsidiale Botschaft: Eure Sorgen und Probleme werden erhört. Der Vorteil dieses öffentlichen Zuhörens ist, dass es vergleichsweise wenig Geld kostet. Denn die zweite Botschaft dieses Dienstagvormittags lautete: Es wird gespart. Im Herbst war der frühere Minister für Kommunales, Jean-Louis Borloo, von der Regierung beauftragt worden zu analysieren, wie die Lage der Vorstädter verbessert werden kann. Ende April legte er dann den "Plan Borloo" vor: einen Maßnahmenkatalog, den er mit 150 Lokalpolitikern aus den betroffenen Vierteln erarbeitet hatte und in dem er Ausgaben in Höhe von 48 Millionen Euro vorschlug. So müsse unter anderem die Verkehrsanbindung der Vorstädte verbessert, eine Hochschule für eine "Elite der Banlieues" geschaffen und die Polizei durch Mediatoren unterstützt werden.

Der Präsident entzog nun seinem selbst erwählten Experten die Deutungshoheit. "Ich werde Ihnen heute keinen Plan für die Banlieues vorstellen, denn ich glaube nicht an solche Pläne", sagte Macron. "Die Jugendlichen aus den Quartiers wollen keine Vorzugsbehandlung", fuhr der Präsident fort. Sie wollten stattdessen dieselben Möglichkeiten wie alle anderen, Zugang zu Bildung und Arbeit zu erhalten. Macron gestaltete seine Absage an Borloos Großinitiative als eine Art Gegenangriff: Es gehe nicht darum, besonders viel Geld zu investieren, sondern es gehe darum, die Bewohner der Vorstädte von ihrer Stigmatisierung zu befreien.

Konkret verspricht der Präsident 30 000 Praktikumsplätze für Jugendliche aus den Banlieues. Außerdem werde er Mitte Juli Frankreichs größte Firmen und Arbeitgeber versammeln, um sie dazu aufzurufen, "ihren Teil zu übernehmen" im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Diskriminierung. Die Bewerbungen von Jugendlichen mit nordafrikanischen, muslimischen oder afrikanischen Wurzeln werden unabhängig von ihrer Qualifikation besonders häufig abgelehnt. Die weiteren, drängenden Fragen der Vorstädte wurden auf Mitte Juli vertagt. Kampf gegen Drogenhandel und Radikalisierung, längst überfällige Gebäudesanierungen: Verschiedene Maßnahmen seien unterdessen in Vorbereitung.

Was den besseren Zugang zu Bildung betrifft, hat der Präsident bereits eines seiner Wahlversprechen umgesetzt. In ausgewählten Grundschulen in besonders armen Vierteln wurde die Klassengröße halbiert. Zu den geladenen Gästen am Dienstag im Élysée zählte auch eine Lehrerin, die berichtete, wie stark sich die Leistungen ihrer Schüler verbessert hätten, seit sie nur noch zwölf statt 24 Kinder gleichzeitig betreuen muss.

© SZ vom 23.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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