Frankreich:Flüchtlingskrise in Calais

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Am Eurotunnel riskieren Tausende Migranten jede Nacht ihr Leben, um auf einen der Züge oder Lastwagen nach England aufzuspringen.

Von Paul Munzinger, München

Es hat wieder einen Toten gegeben am Eingang des Kanaltunnels. Ein Sudanese, etwa 25 bis 30 Jahre alt. Der Mann wollte auf einen Zug aufspringen, der ihn von Frankreich nach England bringen sollte - und, so wohl die Hoffnung des Flüchtlings, in ein besseres Leben. Unterwegs erfasste ihn ein Lkw. Seine Leiche wurde am nächsten Morgen gefunden. Er war bereits der neunte Flüchtling in den vergangenen Wochen, der den Versuch, illegal nach England einzureisen, mit dem Leben bezahlt hat. Das teilte der französische Innenminister Bernard Cazeneuve mit. Recherchen der französischen Zeitung Libération zufolge gibt es sogar zehn Opfer, darunter zwei Frauen und ein Kind.

Die Toten stehen stellvertretend für eine Flüchtlingskrise in und um die französische Küstenstadt Calais, die immer weiter eskaliert. Tausende Migranten aus Sudan, Eritrea, Äthiopien oder Afghanistan warten in provisorischen Lagern rund um Calais auf die Ausreise; eines der Camps ist unter dem Namen "Der Dschungel" bekannt. 1500 Versuche von Flüchtlingen, in den Tunnel zu gelangen, zählte die Betreibergesellschaft des Tunnels in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. In der Nacht davor waren es noch einmal 500 mehr. Nachts herrscht um den Eingang des Tunnels das Chaos. Insgesamt gab es im Jahr 2015 bereits 37 000 Fluchtversuche. Die Migranten versuchen auf Lkws und Züge aufzuspringen, manche mehrmals am Tag. Sie riskieren ihr Leben, um von einem EU-Land in ein anderes zu kommen. Offenbar rechnen sie sich in Großbritannien bessere Chancen auf Asyl und Arbeit aus.

Ein Video zeigt Flüchtlinge, die von Polizisten geschlagen, getreten und geschubst werden

Die Antwort der Regierungen in London und Paris auf die Flüchtlingskrise lautet: Das Nadelöhr soll dichtgemacht werden. Die Lage sei "sehr besorgniserregend", sagte der britische Premier David Cameron während eines Staatsbesuchs in Singapur. "Wir tun alles, was wir können." Innenministerin Theresa May kündigte an, zusätzlich sieben Millionen Pfund, fast zehn Millionen Euro, bereitzustellen, um den Eingang zum Tunnel zu sichern. Ihr französischer Kollege Cazeneuve sagte ebenfalls zusätzliche Mittel sowie die Entsendung von 120 weiteren Polizisten zu. Zudem ermahnte er auch die Betreibergesellschaft Eurotunnel, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Jacques Gounon, Vorsitzender von Eurotunnel, entgegnete, er habe Frankreich und Großbritannien zu einer angemessenen Reaktion aufgefordert. "Hier geht es nicht um Passagiere, die ihren Fahrschein nicht bezahlen. Wir stehen Invasionen gegenüber, die massiv, systematisch und vielleicht sogar organisiert sind", sagte Gounon dem französischen Radiosender France Info. Das Gelände um den Eingang zum Tunnel ist schwer zu bewachen. Es umfasst 650 Hektar und ist auf einer Länge von 28 Kilometern umzäunt.

Hilfsorganisationen werfen der Polizei vor, gegen die Flüchtlinge übermäßig hart vorzugehen. "Die Aktionen der Einsatzkräfte sind oft vollkommen unangemessen und an der Grenze zum Sadismus", kritisiert die Organisation Calais Migrants Solidarity. Bereits im Mai hatte sie ein Video veröffentlicht, das Flüchtlinge zeigt, die von Polizisten geschlagen, getreten, geschubst und mit Tränengas auseinandergetrieben werden. Viele Flüchtlinge gerieten in Gefahr, so die Organisation, weil sie auf der Flucht vor der Polizei vor fahrende Züge oder Autos liefen.

Dass die Flüchtlingszahlen am Eingang zum Eurotunnel in den vergangenen Monaten so stark gestiegen sind, liegt auch daran, dass ein anderer Fluchtweg nach England weitgehend versperrt wurde. In den vergangenen Jahren hatten viele Flüchtlinge versucht, an Bord von Lkws zu gelangen, die auf Fähren den Ärmelkanal passieren. Erst seit der Hafen von Calais massiv gesichert wurde, etwa durch Stacheldrahtzäune, weichen sie in Scharen auf den Eurotunnel aus.

© SZ vom 30.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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