Frankreich:Ein Land verrät sich

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Die Franzosen sehen ihre Heimat gerne als das Mutterland der Menschenrechte. In der aktuellen Flüchtlingskrise wenden sie sich aber ab.

Von Christian Wernicke

François Hollande gilt seinen Landsleuten als ein Präsident von trauriger Gestalt. Anfang September jedoch gab es einen Moment, als die Tristesse des Staatsoberhaupts seiner Nation zur Ehre gereichte. Da sprach Hollande über Aylan, den toten Flüchtlingsjungen vom Strand, dessen Foto um die Welt gegangen war. Der Mann im Élysée begriff den Tod des syrischen Kleinkinds als "Appell an Europas Gewissen". Streng mahnte er, alle EU-Staaten sollten endlich "ihrer moralischen Pflicht genügen" und mehr Flüchtlinge aufnehmen. Fast gebrochen klang die Stimme, als der Präsident einen Satz nachschob: "Ich denke jetzt auch an die Opfer, die niemals fotografiert werden."

Bewegende Worte. Nur, bewegt haben sie wenig. Frankreich, als Mutterland der Menschenrechte gern und oft eine Nation mit weltweiter Mission, verschließt sich zur Wagenburg. Eng, engstirnig, egoistisch. Das zweitgrößte EU-Volk will partout nichts zu tun haben mit dem Flüchtlingsstrom, der sich über den Kontinent ergießt. 60 000, vielleicht 65 000 Asylbewerber wird das Land 2015 registrieren - allein Nordrhein-Westfalen dürfte bis Jahresende vier Mal so viele Migranten aufnehmen. Sieben von zehn Franzosen bekunden in Umfragen, sie wollten keinem dieser zerlumpten Fremden in der eigenen Stadt eine Herberge bieten. Stattdessen: Schotten dicht, Tore zu!

Dieses neue, hässliche Frankreich, es beschämt sich selbst, seine Prinzipien, seine Geschichte. Schon anno 1793 schrieb die Erste Republik das Recht auf Asyl in ihre Verfassung, seit 200 Jahren bietet die große Nation politisch Verfolgten Schutz. Nicht einmal vierzig Jahre ist es her, da fühlten sich die Franzosen noch wie kein zweites Volk in Europa zur Rettung der sogenannten Boat people vor den Küsten Indochinas berufen: 130 000 Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten kamen damals ins Land. Heute hingegen müssen in Paris, der "Stadt des Lichts", Asylbewerber aus Afrika oder Nahost monatelang auf den Quais der Seine ausharren. Der "neue Dschungel" von Calais, wo 6000 Menschen im Morast hausen, wird derweil zum Symbol nationaler Schande.

Sicherlich, dieser Verrat an sich selbst hat Gründe. Frankreich, statistisch noch immer die sechsstärkste Volkswirtschaft der Welt, ist ein weidwundes Land. Stagnation und Massenarbeitslosigkeit zerrütten das Selbstbewusstsein, die Verelendung der arabisch-stämmigen Jugend in den Vorstadt-Ghettos schürt Ängste. Längst glaubt eine Mehrheit, man habe schon zu viele Fremde (sprich: Araber und Muslime) im Land.

Noch ist eine Regierung des Front National nur ein Gespenst

Nein, es brennen keine Asylbewerberheime. Aber es lodern die Flammen des Front National. Jeder dritte Franzose ist mittlerweile bereit, der rechtsextremen Bewegung und ihrer Anführerin Marine Le Pen hinterherzulaufen. Das Gespenst einer Machtergreifung des Front National (FN) ist zwar vorerst nur ein Gespenst. Frankreichs Mehrheitswahlrecht dürfte Madame Le Pen den Weg zum Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2017 versperren. Dennoch, die Krise offenbart, wie sehr der FN bereits mitregiert in den Köpfen von Sozialisten wie Konservativen, in den Hirnen von François Hollande und Nicolas Sarkozy.

Im Dezember dräuen Regionalwahlen. Auch deshalb tut die linke Regierung nur wenig, um etwa mehr Notunterkünfte zu schaffen. Humanität ist unpopulär, auch bei den oppositionellen Republikanern, die sich immer weiter nach Rechtsaußen verirren: Ex-Präsident Sarkozy verglich den Strom der Flüchtlinge neulich mit einem geborstenen Abwasserrohr, eine Parteifreundin beschwört Frankreich als "Land der weißen Rasse".

Es gären Ressentiments, und die zielen nicht nur auf die Fremden. Ärger, ja Zorn richtet sich auch gegen Deutschland und die sonst so bewunderte Kanzlerin. In den Augen vieler Franzosen hat Angela Merkel selbstherrlich und allein Europas Tore für die Flüchtlinge aufgerissen. Man fühlt sich überrumpelt - und ergo zur Solidarität nicht verpflichtet. Schlimmer noch, die Flüchtlingskrise wird als Signal eigener Schwäche gedeutet, als Beleg dafür, dass die deutsch-französischen Verhältnissen aus den Fugen geraten sind. Man sieht Berliner Dominanz in Europa: Merkel befiehlt, wir müssen folgen. So ähnlich war's ja schon in der Euro-Krise.

Germanophobe Reflexe sind zu beobachten - ausgerechnet in jenem Land, das Berlin am meisten braucht in dieser historischen Krise. Ohne Zusammenarbeit mit den Franzosen wird es den Deutschen nie gelingen, Europa für eine humane Flüchtlingspolitik zu gewinnen. Wenn Merkel ihren Freund François nicht überzeugen kann, hat sie verloren. Der Mann steht im Wort, seit September: Täglich ertrinken Kinder, namenlose Aylans, im Mittelmeer.

© SZ vom 09.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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