Flüchtlingsdebatte:Guten Morgen, Deutschland!

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Das bequeme Leben auf der behüteten Insel Europa geht dem Ende entgegen: Das war die Botschaft der Kanzlerin bei der Debatte im Bundestag.

Von Stefan Braun

Angela Merkel hat am Mittwoch im Bundestag einen bemerkenswerten Satz gesagt. Selten, so die Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte, habe Deutschland so konkret zu spüren bekommen, wie Ereignisse in vermeintlich fernen Regionen das Leben in Städten wie Essen und Stuttgart verändern. Noch nie, das war ihre Botschaft, sind die Krisen der Welt derart ins deutsche Wohnzimmer vorgedrungen. Merkel hätte auch sagen können: "Guten Morgen, Deutschland! Das bequeme Leben auf der behüteten Insel Europa geht dem Ende entgegen."

Der Terrorismus des sogenannten Islamischen Staates, der verheerende Krieg in Syrien und die Hunderttausenden Flüchtlinge, die nach Europa strömen - sie sind keine temporären Phänomene mehr, die eine Weile wehtun, aber bis Ostern durch andere Phänomene abgelöst werden. Sie werden bleiben, und sie werden Deutschland noch sehr viel abverlangen. Gemessen daran war der Auftritt der Kanzlerin immerhin so etwas wie ein Anfang. Und der Auftritt der Opposition war eine große Enttäuschung.

Keine Frage, die Kanzlerin kann in der Flüchtlingskrise auf erste Erfolge im Management verweisen. Es gibt eine etwas bessere Koordination zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Es gibt eine Übernahme milliardenschwerer Lasten durch den Bund, vor allem beim Asylbewerberleistungsgesetz. Und es gibt Belege dafür, dass die Zahl der Flüchtlinge vom Westbalkan spürbar zurückgeht; das alles entlastet in der Krise. Und das ist ein Fortschritt nach all den Wochen, in denen vor allem das Chaos regierte. Umso ärgerlicher ist es, dass die Koalition ausgerechnet jetzt giftig über das zweite Asylpaket streitet. Auf einen Anflug von Ordnung folgt nur der nächste Ärger.

So viele Abhängigkeiten hat es schon lange nicht mehr gegeben

Immerhin kann man Merkel eines zugutehalten. Sie hat am Mittwoch - ob beabsichtigt oder nicht - offengelegt, wie sehr die Lösung der Probleme nicht mehr nur in der eigenen Hand liegt. Ohne Russland, Iran, Saudi-Arabien wird es keine Lösung des Syrien-Konflikts geben. Ohne Hilfe der Türkei wird die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kaum sinken. Ohne Solidarität in Europa wird man nicht zu guten Lösungen kommen. Und dann ist da auch noch Frankreich. Paris wird sehr bald Auskunft darüber geben, wie es sich deutsche Solidarität im Kampf gegen den Terror vorstellt. So viele Abhängigkeiten hat es lange nicht mehr gegeben; die Kanzlerin hat gar nicht erst versucht, die Folgen dieser Abhängigkeiten auszublenden.

Linkspartei und Grüne dagegen taten so, als könnten sie das ignorieren. Dietmar Bartsch attackierte die Türken , ohne einen Satz darauf zu verwenden, wie man die Flüchtlingskrise ohne Ankara lösen könnte. Und Anton Hofreiter attackierte zu Recht Saudi-Arabien, wich aber der schwierigen Frage aus, wie er ohne das umstrittene Land den Syrien-Konflikt beilegen würde. Eine Opposition kann das so machen; und sie kann in den eigenen Reihen damit punkten. Aber sie vermittelt so nicht den Eindruck, eigene Ideen zu haben.

© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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