Flüchtlinge:Zur Kirche statt zur Grenze

Lesezeit: 2 min

Im italienischen Ventimiglia wurden Migranten vertrieben. Ein Pfarrer hilft.

Von Oliver Meiler, Rom

Aus dem italienischen Ventimiglia hört man Worte, wie man sie in den vergangenen Tagen nicht oft gehört hat: "Wir nehmen so viele auf, wie wir nur können", sagt der katholische Bischof der Stadt, Antonio Suetta. Gemeint sind Flüchtlinge. In seiner Diözese gebe es viele Plätze - in Kirchen und Pfarreigebäuden. Platz für Zelte auch. Er nehme da den Appell des Papstes auf. Ventimiglia ist der andere Brenner. Ohne Berg. Und mit Franzosen auf der anderen Grenzseite statt Österreichern. In der kleinen Hafenstadt im äußersten Nordwesten Italiens, spielen sich Szenen ab, wie sie die Italiener bald an allen ihren Grenzen zum Norden befürchten.

Flüchtlinge, aus Eritrea und dem Sudan in diesem Fall, die es nach überlebter Fahrt übers Mittelmeer bis nach Norditalien geschafft haben und stecken bleiben, zurückgedrängt von einer strengen Grenzkontrolle - und campieren in der Hoffnung, es irgendwann doch zu schaffen. Mit der Hilfe von Schleusern etwa, die sie für 150 Euro über versteckte Hügelwege führen, hoch über der Riviera, hinüber nach Frankreich.

In der Zwischenzeit warten sie und wehren sich dagegen, von den Behörden Italiens identifiziert und registriert zu werden. Sonst würden sie, sollten sie irgendwann von der französischen Polizei angehalten werden, sofort wieder nach Italien zurückgebracht. So sieht es das Dubliner Abkommen vor. Und das wollen sie nicht. Die meisten wollen nicht in den Norden Italiens, sondern in den Norden Europas.

Vor einigen Wochen haben sich zweihundert Flüchtlinge an der Mündung des Roja, des Flusses im Zentrum Ventimiglias, ohne Genehmigung niedergelassen. Der linke Bürgermeister der Stadt, Enrico Ioculano, 31 Jahre alt, schaute eine Weile zu, wie dieses Camp immer größer wurde, er hörte sich die immer lauteren Klagen seiner Bürger an und gab dann den Befehl, das Lager mit Polizeigewalt räumen zu lassen.

Es war keine einfache Entscheidung für den Bürgermeister: Sie widerspricht der Linie seiner Partei, dem national regierenden Partito Democratico von Matteo Renzi. Und so beschloss Ioculano aus Kohärenz und "schweren Herzens", wie er sagte, aus der Partei auszutreten.

Als die Polizei dann im Morgengrauen zur Räumung schritt, war ein Teil der Flüchtlinge schon weg. Linke Aktivisten, Mitglieder der sogenannten No Borders, hatten ungefähr einhundert Migranten zur Kirche San Nicola da Tolentino begleitet. Der Leiter der Pfarrei, der nunmehr landesweit bekannte Padre Francesco Marcoaldi, öffnete die Türen seiner Kirche und nahm sie alle auf. Die Erlaubnis dafür hatte er sich bei seinem Vorgesetzten eingeholt, bei Bischof Antonio Suetta. In einem Gespräch mit der Zeitung La Repubblica sagte Suetta, das sei zwar nicht die Lösung des Problems. "Doch ist es etwa eine Lösung, sie zu deportieren?" Der Bischof erzählt, viele Bürger hätten sich bei ihm gemeldet, um zu helfen, unter ihnen auch Ärzte und Anwälte. Die Caritas sorgt für die Verpflegung.

Jene Flüchtlinge, die im Lager am Fluss ausgeharrt hatten, als die Polizei kam, wurden mit Autobussen nach Genua gefahren. Und weil es dort in den Auffangzentren keinen Platz mehr gab, wurden sie mit Charterflügen in den Süden Italiens gebracht, wo sie schon einmal waren. Lucio Caracciolo, der Chefredakteur der geopolitischen Zeitschrift Limes, vergleicht Italiens Situation in einem Kommentar mit einem "Dampfkochtopf": "Wenn Frankreich und Österreich mit härteren Kontrollen auf den wachsenden Druck der Migration antworten oder die Grenzen sogar ganz schließen", schreibt er, "dann droht Italien, in eine mörderische Zange zu geraten." Noch ist es nicht so weit.

© SZ vom 01.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: