Europäische Union:Das Jahr der EU: Abgründe und Lernkurven

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Zerstörte Häuser in Debalzewe, Ostukraine. Hier tobten im Februar heftige Kämpfe zwischen ukrainischer Armee und prorussischen Rebellen. (Foto: Baz Ratner/REUTERS)

Viele Krisen haben das Jahr geprägt, die EU war gefordert wie selten zuvor. Und für 2016 zeichnen sich bereits neue Gräben ab. Ein Überblick.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Krisenjahr. Damit war früher meist gemeint, eine bestimmte Krise sei prägend gewesen. 2015 waren es fünf. Es gelang gerade noch, das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone zu verhindern. Im Osten der Ukraine konnte kein wirklicher Frieden geschaffen werden. Auf schreckliche Weise prägten der Krieg in Syrien und der Terror in Europa das Jahr. Die Zahl der Flüchtlinge überforderte die EU und brachte das Schengen-System für grenzenloses Reisen an den Rand des Zusammenbruchs. Und als sei das nicht genug, warf auch noch die Debatte über einen möglichen britischen EU-Austritt erste Schatten. "Europa steht am Abgrund", resümierte der Präsident des Europäischen Parlaments, der Sozialdemokrat Martin Schulz.

Es geht auch weniger pessimistisch. "Europa steht vor gewaltigen Herausforderungen", meint der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber. "Aber Europa steht nicht am Abgrund. Wir müssen auch über die Erfolge reden, über das, was erreicht worden ist. Aus meiner Sicht ist das vor allem im letzten Jahr eine Menge", sagt er. So sei ein großer Einsatz zur Rettung von Menschenleben im Mittelmeer zuwege gebracht worden, die EU habe maßgeblich zum Klimaabkommen von Paris beigetragen und große Fortschritte beim Datenschutz erzielt: "Europa ist aufgestanden in der digitalen Welt und hat seine Stimme erhoben. Wir wollen uns nicht dem rein amerikanischen Primat im Umgang mit Daten unterwerfen."

Allerdings: Keine der Krisen, die Europa 2015 ge- und zum Teil überfordert haben, ist ausgestanden. Schon jetzt zeichnen sich neue Bruchlinien ab. Ein Überblick.

Gegen Mitternacht, zur Halbzeit des EU-Gipfels Mitte Dezember, legte Angela Merkel dar, wie sie die Sache mit den Flüchtlingen sieht, für alle, die es offenbar immer noch nicht verstanden haben. Gefragt hatte man die Kanzlerin, wo sie ihren Optimismus hernehme; schließlich geht es kaum voran bei der Verteilung der 160 000 Flüchtlinge in der EU und dem Aufbau der Registrierungszentren an den Außengrenzen. Das zentrale Projekt zur Lösung der Krise scheint nicht zu funktionieren.

Mit sichtbarer Freude kehrt Merkel in ihrer Antwort die Physikerin hervor. Sie vertraue "auf die Existenz der Exponentialkurve". Jede Kurve beginne langsam, auch jede Lernkurve. Und Europa habe viel zu lernen, nämlich "mit einem völlig neuen Phänomen umzugehen". "Ich vertraue darauf, dass bei gutem Willen sich das dann langsam und schrittweise ergibt." Man dürfe das bisherige Tempo bei der Verteilung der Flüchtlinge nicht "linear extrapolieren", denn "dann würden Sie ja wahrscheinlich am Ende des Jahrhunderts ankommen, bis wir die 160 000 verteilt haben. Aber so laufen ja natürliche Prozesse nicht ab. Sondern Sie lernen, und dann geht es ja in einem ganz anderen Mechanismus."

Merkels Vertrauen in Europa ist riskant

Die EU als lernfähiges System, die Kanzlerin als Lehrerin - und Schülerin zugleich. Während man in London und Paris lacht über so viel "Naivität", kaufen ihr andere den Optimismus ab. Das sei die "Can-do"-Mentalität, die Amerika einst stark gemacht habe, schreibt die New York Times. Merkels Entscheidung im Sommer, die Verzweifelten aus Syrien nicht zurückzuweisen, sondern die Ärmel hochzukrempeln, habe sie zu einer "überragenden europäischen Figur" gemacht, vielleicht noch vor Adenauer oder Kohl.

Ist der Optimismus also angebracht? Merkels Vertrauen in Europa ist riskant. Die EU-Kommission weiß sie hinter sich, deren Plan zwei essenzielle Elemente enthält: Solidarität und besseren Grenzschutz. Griechenland und Italien sollen die Flüchtlinge nicht länger durchwinken auf dem Weg nach Norden. Vielmehr hilft ihnen die EU, die Migranten an der Grenze zu registrieren und sofort zu verteilen - oder zurückzuschicken. Gleichzeitig lockt man die Türkei: Europa zahlt ihr Milliarden zur Unterbringung der Flüchtlinge und nimmt ihr Migranten ab, möglichst Hunderttausende, die legal in die EU gebracht und verteilt würden. Dafür soll Ankara die Zuwanderung nach Europa deutlich drosseln.

Wie bringt man Flüchtlinge dazu, brav nach Estland zu ziehen?

In der Praxis haben sich haufenweise Probleme ergeben. Vor allem die Griechen misstrauen dem System noch immer. Ihre Furcht, auf den Flüchtlingen sitzen zu bleiben, ist nicht unberechtigt, denn viele Staaten weigern sich, die zugeteilten Migranten aufzunehmen. Noch weiß auch keiner, wie die Flüchtlinge dazu gebracht werden können, sich systemkonform zu verhalten, sich also etwa brav nach Estland fliegen zu lassen statt ins Wunschziel Schweden. Und hinsichtlich der Türkei waren die Erwartungen wohl zu hoch. Höchstens ein paar Zehntausend Menschen ließen sich umsiedeln, stellte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen kürzlich klar.

Mehr als eine Million Menschen haben sich 2015 aus den südlichen Krisengebieten auf den Weg nach Europa gemacht. Auch 2016 wird die Zahl hoch bleiben. Unlösbar sind die Probleme nicht. " Aber wir brauchen den politischen Willen", sagt Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans, "und der muss aus den Mitgliedstaaten kommen."

Bis zum Sommer sah es in Brüssel so aus, als ob es dieses Jahr nur eine große Herausforderung geben würde: Griechenland. Um dessen Finanzen ist es ruhiger geworden, aber das heißt nicht, die Probleme existierten nicht mehr. 2016 könnte es wieder lauter werden, die Euro-Partner brauchen weiterhin starke Nerven. Schon jetzt fühlt sich ein EU-Diplomat bei den Verhandlungen über den Schutz der EU-Außengrenze an die Auseinandersetzungen vom Sommer erinnert: "Die Griechen versprechen viel, liefern aber nicht."

Wie viel sie wirklich geliefert haben, wird die Überprüfung der Reformen im Januar zeigen. Das Schwierigste steht noch bevor: die Rentenreform. "Würde man diese Maßnahmen in Deutschland durchsetzen, gäbe es Demonstrationen wie damals gegen die Hartz-Reformen", sagt ein EU-Diplomat. Von dieser Rentenreform hängen die Haushaltszahlen ab, aber auch die Frage, ob der Internationale Währungsfonds (IWF) sich weiter an den Milliardenhilfen für Griechenland beteiligt.

Die Kanzlerin hat ihr Schicksal an die Beteiligung des IWF geknüpft

Athen hätte den Fonds aus Washington am liebsten los. Für dessen Kredite muss Griechenland deutlich mehr Zinsen zahlen als bei den Darlehen der Euro-Partner. Die Rentenreform allein wird dem IWF aber nicht reichen. Auch die anderen Euro-Länder werden etwas für den Abbau der Schuldenlast tun müssen. Das bedeutet Fristen strecken, Laufzeiten verlängern. In Brüssel laufen schon Wetten, ob Athen das Gleiche probiert wie im Sommer: den nächsten fälligen IWF-Kredit nicht zurückzahlen und dann abwarten, wie die Euro-Gruppe reagiert.

Für die Bundesregierung wäre diese Erpressungstaktik schwer erträglich. Die Kanzlerin hat ihr Schicksal in der Euro-Krise an die Beteiligung des IWF geknüpft. Viele in der CDU/CSU-Fraktion sehen den IWF als einzigen Garanten für scharfe Kontrollen; im Gegensatz zur EU-Kommission, die sie für zu gutmütig halten.

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Griechenlands Regierungschef hat, wie er sagt, "den Eindruck, dass die Finanzierung durch den Internationalen Währungsfonds nicht nötig ist".

Aber wie soll es weitergehen mit den griechischen Schulden? In Brüssel wird darüber diskutiert, ob nicht doch ein Schuldenschnitt besser sei. Dieser könnte auch den Abgeordneten im Bundestag besser vermittelt werden als ein Ausstieg des IWF, denn sie wissen: Das Geld ist sowieso weg. Warum also nicht ein ehrlicher Schnitt? Diese Debatte wird im nächsten Jahr wiederkommen.

Kurz vor Jahresende ist es der EU noch einmal gelungen, gegenüber Russland die Reihen zu schließen. Die Wirtschaftssanktionen wurden um ein halbes Jahr verlängert. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hat seine Ankündigung nicht wahr gemacht, beim letzten EU-Gipfel des Jahres eine Debatte darüber vom Zaum zu brechen. Vorerst gilt, worauf sich die Staats-und Regierungschefs schon vor Monaten verständigt hatten: Erst wenn das Abkommen von Minsk, das die Ostukraine befrieden soll, vollständig umgesetzt ist, können die Sanktionen aufgehoben werden.

In Brüssel herrscht allerdings das Gefühl vor, dass die Verlängerung der Sanktionen kein weiteres Mal so vergleichsweise konfliktfrei beschlossen werden kann. Sollte der Friedensprozess im Osten der Ukraine scheitern, steht der EU Streit darüber ins Haus, wie groß der russische Anteil am Scheitern ist. Länder wie Italien werden die Sanktionen teilweise lockern wollen. Östliche Mitglieder werden indes Härte verlangen. Spätestens dann könnte sich zeigen, wie breit die Gräben sind, die sich in der Flüchtlingskrise aufgetan haben.

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Beim jüngsten Gipfel entstand der Eindruck, so schlimm werde es schon nicht werden in den Verhandlungen mit Großbritannien. Premier David Cameron soll seinen neuen Deal bekommen, mit dem er dann ein Referendum über den Verbleib des Königreichs in der EU gewinnen kann. Die Staats- und Regierungschefs gelobten, "eng zusammenzuarbeiten, um für alle Seiten befriedigende Lösungen" bis Mitte Februar zu finden.

Sie betreffen erstens die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Zweitens verlangt Cameron eine Absicherung nationaler Souveränitätsrechte. Drittens will er sicherstellen, dass Großbritannien im Verhältnis zu den Euro-Staaten nicht benachteiligt wird. Vierter und heikelster Punkt sind die Sozialleistungen für zugewanderte EU-Bürger. Die Migranten sollen mindestens vier Jahre in Großbritannien gearbeitet haben müssen, bevor sie einen Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen haben. Dies widerspricht der Gleichbehandlungspflicht in der EU.

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Die EU-Partner geben Cameron dazu eine Art Versprechen für die Zukunft. Er soll die Zusage für eine künftige Vertragsänderung erhalten, was nicht einfach umzusetzen ist. EVP-Fraktionschef Weber warnt überdies davor, sein Haus zu übergehen: "Das Europäische Parlament legt schon stark Wert darauf, dass es keine Vertragszusagen gibt ohne Beteiligung des Parlaments." Mögliche Vertragsänderungen dürften auch nicht ausschließlich von einer britischen Agenda vorgegeben werden. Es müsse darüber gesprochen werden, wo weniger, aber auch darüber, wo mehr Europa nötig sei.

© SZ vom 31.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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