Europäische Union:Nur die Wirklichkeit stört

Lesezeit: 3 min

Libyen helfen, damit der Transitstaat für Flüchtlinge Europa helfen kann: In Malta beschließt die EU gut klingende, aber kaum durchsetzbare Ideen. Einige Mitgliedstaaten propagieren deshalb immer lauter einen radikal anderen Ansatz.

Von Thomas Kirchner, Valletta

Das Tragische am Umgang der EU mit der Flüchtlingskrise ist, dass ihre Pläne gut klingen und in der Regel durchaus einleuchten. Nur umsetzen lassen sie sich dann kaum.

Es hörte sich überzeugend an, wie die EU 2015 auf die gestiegenen Flüchtlingszahlen reagierte. Sie plante Aufnahmezentren in Griechenland und Italien; dort wollte man die Migranten registrieren, um sie kontrolliert in Europa zu verteilen. Doch weil viele Staaten partout niemanden aufnehmen wollten, scheiterte der Plan. Dasselbe Schicksal könnte nun der Idee blühen, die Migration über das zentrale Mittelmeer durch eine Kooperation mit nordafrikanischen Staaten und insbesondere Libyen einzudämmen.

Auf ihrem Sondergipfel verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU dazu am Freitag eine "Erklärung von Malta". Mehr als 181 000 Migranten hätten 2016 nach Italien übergesetzt, heißt es darin, die Zahl der Toten und Vermissten erreiche Jahr für Jahr Rekordhöhen, und der Frühling stehe vor der Tür. Mehr als 900 000 Menschen leben als Migranten oder Gastarbeiter in Libyen, etwa ein Drittel davon strebt nach Schätzungen Richtung Europa. Die EU müsse daher, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, "genauso vorgehen, wie wir es auch im Zusammenhang mit der Türkei gemacht haben".

Aktuell bildet die EU libysche Küstenwächter aus - auf Kreta, in Libyen wäre es zu gefährlich

Gemeint ist: Ein Transitstaat soll Europa helfen. Mit allen Mitteln muss die EU das zerfallene, von Chaos und Terror geplagte Land daher auf zwei Beine stellen, damit es tun kann, was die EU sich von ihm wünscht: seine Grenzen zu Land und zur See besser zu "kontrollieren", also abzuriegeln, wie es weiland Muammar al-Gaddafi im europäischen Auftrag tat. Zehn Punkte sollen bevorzugt umgesetzt werden. Sie seien, freut man sich in der EU-Kommission, "per copy und paste" aus einem Konzept übernommen worden, das die Behörde vergangene Woche vorgestellt hatte.

Geplant ist, die libysche Küstenwache auszubilden und auszurüsten, gegen die Menschenschmuggler vorzugehen. Zudem will man die wirtschaftliche Lage in den Küstenregionen und die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern sowie mehr Menschen dazu bewegen, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Potenziellen Migranten soll mit einer "Informationskampagne" mitgeteilt werden, dass sich ihre Reise nicht lohnt. Außerdem soll in Zusammenarbeit mit den Nachbarländern der Migrationsdruck in Richtung Libyen verringert werden.

Das ist nicht wenig, aber nur ein kleiner Teil der vielen Projekte für Libyen, die geplant sind oder schon laufen. So gehen etwa einige Dutzend libysche Küstenschützer seit Monaten bei europäischen Kollegen in die Lehre. Sie beginnen mit einer nautischen Grundausbildung, fangen also bei null an. Zwei weitere Kurse sind geplant. Bezeichnenderweise finden sie auf Kreta statt, in Libyen selbst wäre die Ausbildung zu gefährlich. Überhaupt werden alle Projekte aus Tunesien oder anderen Ländern gesteuert, die Lage in Libyen ist desolat ( siehe "Anarchie, die die Schwächsten trifft"). Die Zentralregierung hat wenig Macht und kann - ein entscheidender Unterschied zum Deal mit der Türkei - vermutlich nicht liefern. "Leider können es sich die EU-Politiker nicht leisten, eine nackte Wahrheit anzuerkennen", sagt Elizabeth Collett vom Migration Policy Institute: "Libyen wird wenig von dem machen können, was die EU erwartet."

Hinzu kommt eine entscheidende Lücke in der Malteser Erklärung, die mit der Phrase umkurvt wird, in Libyen sollten "adäquate Aufnahmekapazitäten und -bedingungen" gesichert" werden. Niemand weiß genau, was mit jenen geschehen soll, die an der Flucht gehindert oder an der libyschen Küste aufgegriffen werden. Bisher würden Migranten willkürlich unter unmenschlichen und unhygienischen Verhältnissen oft monatelang in überfüllten Lagern eingesperrt, warnt die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Diese Lager sollen auch weiterhin unter alleiniger libyscher Verantwortung stehen. "Die Logik dieser Zentren ist, dass sie Haftzentren sind", sagt Karl Kopp von Pro Asyl. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM), auf deren Mitarbeit die EU zählt, forderten am Freitag, endlich ungehindert Zugang zu erhalten zu diesen Orten, die in einem Bericht des Auswärtigen Amts kürzlich mit Konzentrationslagern verglichen wurden.

Die Regierungschefs der EU wollen auch die Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern verbessern. Dort sind Tausende Migranten unter desaströsen Bedingungen eingekerkert. (Foto: Leon Neal/Getty)

Was die Union sich vornimmt, ist also schwierig bis aussichtslos. Dennoch wollen einige noch deutlich weiter gehen und die Migration grundsätzlich neu gestalten. Statt die Afrikaner zu Festungswärtern auszubilden, wollen sie die Zugbrücke der Festung Europa völlig hochziehen, bis auf eine kleine Klappe für die Schutzbedürftigen. Länder wie Österreich und Ungarn schlagen vor, Migranten gar nicht erst in die EU hineinzulassen, sondern ihren Schutzanspruch in Asylzentren außerhalb Europas abzuklären. Ein großer Teil, alle "Wirtschaftsmigranten", würde abgewiesen und zunächst in "Schutzzonen" gebracht, die den Zentren angegliedert wären. Der Rest würde, bis zu einer Obergrenze, in die EU umgesiedelt. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière propagiert den Grundansatz dieser Idee inzwischen nachdrücklich.

In Malta stand der Gedanke nicht auf der offiziellen Agenda, aber als Elefant im Raum. Vorsorglich erklärten UNHCR und IOM, dass Libyen keinesfalls als "sicherer Drittstaat" gelten könne, in den man Flüchtlinge zurückschicken darf. Ebenso wenig sei es angebracht, Asylsuchende auf "extraterritorialen Gebieten" in Nordafrika abzufertigen. Wie denn überhaupt noch ein Flüchtling nach Europa gelangen könne, wenn auch der Weg nach Italien einmal versperrt sei, wurde Merkel in Valletta gefragt. Das müsse über "Kontingente" geschehen, antwortete sie, "so wie wir das mit der Türkei auch vorhaben". Bisher sind auf diesem Weg nur etwa 3000 Menschen in die EU-Staaten gebracht worden.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: