Europa:Oettingers Selbstrufmord

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Ein sehr unkluger Satz des deutschen EU-Kommissars über die Populisten und die Wahl in Italien bestätigt die Vorurteile, die Europagegner in Italien gegen Europa haben. Solche Äußerungen sind schädlich für die Europäische Union und für alles Gute, das durchaus auch aus Brüssel kommt.

Von Detlef Esslinger

Wer ein frisches Beispiel sucht, welchen Wert die Europäische Union für ihre Bürger hat, der müsste sich nur die Entsenderichtlinie anschauen, die das Europarlament in dieser Woche beschlossen hat. Die was? Ja, leider ist dieses Ding ein Ungetüm aus 18 Buchstaben und sechs Silben, Letzteres macht eine weniger als bei "Datenschutzgrundverordnung", klingt aber genauso brüsselisch. So etwas wird von den meisten Menschen ignoriert; was man über den EU-Kommissar Günther Oettinger leider nicht sagen kann.

Die Entsenderichtlinie regelt die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern, die von ihrer Firma in ein anderes EU-Land geschickt werden. Das Prinzip dabei: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Und keine Tricksereien mehr, indem man osteuropäischen Arbeitern die Reisekosten vom Lohn abzieht oder ihnen Zuschläge und Sonderzahlungen vorenthält. Die Richtlinie ist der Versuch, seriöse Bezahlung zu bewirken sowie Geschäftsmodelle zu zerstören, die vor allem darauf beruhen, dass schlecht bezahlte Arbeitnehmer die Konkurrenz von noch schlechter bezahlten Arbeitnehmern fürchten müssen.

In der Marktwirtschaft verhält es sich so, dass der Wettbewerb bei Qualität und Service in der Regel zu neuen und verbesserten Gütern führt, ein Wettbewerb bei den Löhnen indes zu verschlechterten Arbeitsbedingungen. Das ist ja auch der Sinn aller Tarifverträge: Lohnkonkurrenz zu beenden und den Firmen die Konzentration auf das Entwickeln ihrer Produkte zu ermöglichen. Damit die Entsenderichtlinie wirken kann, sind nun die Regierungen der Mitgliedsländer dran. Deutschland zum Beispiel muss den Zoll endlich so mit Personal und Geld ausstatten, dass er Schlachthöfe, Baustellen und Pflegeheime tatsächlich kontrollieren kann. Aber was "Brüssel" betrifft: Die Politiker und Beamten dort haben nun weitgehend getan, was für sie zu tun war.

Die Entsenderichtlinie wäre wohl auch dann kein großes Thema gewesen, wenn der Kommissar Oettinger ausnahmsweise nicht dahergeredet hätte. Aber Oettinger, seit Jahrzehnten ein akribischer und erfolgreicher Sachbearbeiter der Politik, hat schon vor langer Zeit die Kontrolle über seine Zunge verloren; er spricht Sätze, die Selbstrufmord sind und leider noch viel mehr. War es nicht schon zu viel des Schlechten, als er anregte, die Flaggen von hoch verschuldeten Euro-Ländern vor EU-Gebäuden auf halbmast zu setzen (2011)? In welchem Zustand muss man sein, damit einem als EU-Kommissar die Worte "Schlitzohren und Schlitzaugen" für Chinesen entfahren (2016)? Nun hat Oettinger es für eine Idee gehalten, über seine "Erwartungen" Italien betreffend zu reden, "dass die wirtschaftliche Entwicklung Italiens so einschneidend sein könnte, dass dies für die Wähler doch ein mögliches Signal ist, nicht Populisten von links und rechts zu wählen."

Der Lega-Chef Matteo Salvini lebt seit Jahren von Ressentiments gegen die angeblichen Bevormunder Brüssel und Berlin. Als er kurz vor dem Ziel ein wenig ins Stocken gerät, gibt ausgerechnet derjenige Politiker den Ober-Bevormunder, der als Einziger in ganz Europa "Brüssel", "Berlin" und das Thema Finanzen in seiner Person vereint, der deutsche EU-Haushaltskommissar. Nein, die Entsenderichtlinie ist zu kompliziert, um als Schlagzeile zu taugen. Oettinger hingegen ist simpel.

© SZ vom 01.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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