Europa:Lob der Bescheidenheit

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Junckers Rede zur Lage des Kontinents hat die Europafreunde klamm zurückgelassen. Doch sie war der Situation angemessen. Die EU wird nicht durch einen großen Wurf wieder zu Kräften kommen, sondern nur durch viele pragmatische Schritte.

Von Daniel Brössler

An Politiker gibt es die berechtigte Erwartung, besonders dann gute Reden zu halten, wenn die Lage schlecht ist. Sie sollen eine überzeugende Analyse bieten und einen gangbaren Ausweg weisen. Im Idealfall stellt sich ein Aha-Effekt ein und so etwas wie Zuversicht. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist lange genug im Geschäft, um diese Erwartung zu kennen. Auch an analytischen Fähigkeiten und rhetorischem Talent gebricht es ihm nicht. Dennoch werden selbst unverwüstliche Euphoriker am Mittwoch keinen Ruck gespürt haben, der nach der Rede zur Lage der Union durch das EU-Parlament in Straßburg gegangen wäre oder gar durch ganz Europa. Andererseits: Eine flammende Liebeserklärung an Europa wäre vielleicht schön fürs Herz gewesen, den Verstand aber hätte sie eher beleidigt.

Fast ist es, als hätte Juncker den Auftrag, Europa zu repräsentieren, wörtlich genommen. Die Furchen in Junckers Gesicht schienen jene zwar beunruhigte, aber eben auch nicht verzweifelte Grundstimmung wiederzugeben, die die EU seit dem Votum der Briten für den Brexit prägt. In diesem Klima macht sich lächerlich, wer die Probleme kleinredet, aber schuldig, wer sie auch noch aufbläst. Die EU ist alles andere als in "Topform", wie Juncker es formuliert, aber auch nicht in akuter Lebensgefahr.

Sie ist es deshalb nicht, weil die überwiegende Mehrheit eine besser funktionierende und nicht gar keine Union wünscht. Was aber "besser" bedeutet, ist in einem komplexen Gebilde wie der EU unendlich schwerer zu ermitteln als in einem Nationalstaat. Wenn Juncker etwas vorzuwerfen ist, dann dass er allzu oft die Erwartung geweckt hat, er könnte als eine Art gesamteuropäischer Regierungschef aus der Krise führen. Am Mittwoch klang er nun, und das ist gut, etwas bescheidener.

Es ist nicht die Zeit hehrer Pläne, sondern pragmatischer Schritte

In Wahrheit geht es nicht um den großen Wurf, sondern um Millimeterarbeit. Juncker spricht zu den Linken über die soziale Union und zu Konservativen über den Schutz des europäischen Way of Life. Und er erinnert zu Recht an die Staats- und Regierungschefs, ohne die fast alles in der EU nichts ist. Das Kunststück besteht darin, den Laden im Großen zusammenzuhalten und trotzdem im Detail weiterzubringen.

Natürlich hängt das Schicksal Europas nicht davon ab, wie viele Tage Handynutzer ohne Zusatzgebühren im Ausland telefonieren können. Wenn es aber nicht gelingt, den Nutzen der EU im Alltag der Bürger überzeugend ins Bewusstsein zu holen, wird es keinen Stimmungsumschwung geben. Hoffentlich haltbare Versprechen wie freies Wlan in allen EU-Großstädten bis 2020 dienen diesem Zweck.

Beim Sondergipfel in Bratislava an diesem Freitag werden die Chefs vor demselben Problem stehen: je grandioser die Verkündigung, desto unglaubwürdiger die Botschaft. Je demonstrativer das Bild der Einigkeit, desto durchsichtiger die Lüge. Wenn Sozialisten des Südens, Rechtspopulisten des Ostens und mittendrin Angela Merkel sich zusammenraufen, dann geht das nur mit radikalem Pragmatismus. Der diktiert nun vor allem das Thema Sicherheit. Schließlich sind alle zu Hause eine Antwort schuldig auf die Ängste, die durch Flüchtlingskrise und Terrorismus hervorgerufen oder verstärkt worden sind.

Pragmatismus war schon immer das Lebenselixier der EU. Anders kann eine solche Gemeinschaft nicht funktionieren. Allerdings stellt sich schon die Frage, wann die Dosis ins Toxische umschlägt. Wenn um des Zusammenhalts der Union willen über die Aushöhlung des Rechtsstaates in Polen oder staatliche Hetze gegen Flüchtlinge in Ungarn hinweggesehen wird, gibt es langfristig vielleicht keine Union mehr.

Juncker hat immerhin versucht, das richtige Maß zu finden. Mehr war nicht drin. So ist die Lage.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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