Europa:Kontinentaldrift

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"Juncker ist schwach, Tusk tut niemandem weh": Weder der EU-Kommissionschef (rechts) noch der EU-Ratspräsident setzten im Sommer Akzente. (Foto: Anadolu Agency/Getty Images)

Ob Kommission oder Rat - seit dem Brexit-Votum verlieren Brüssels bisher so mächtige Institutionen unübersehbar immer mehr an Einfluss.

Von Alexander Mühlauer

Wie lange so eine Sommerpause in Brüssel dauern kann, lässt sich ganz gut am Kalender von Donald Tusk ablesen. Bis Mitte Juli waren die Tage des EU-Ratspräsidenten mit Terminen vollgestopft, der letzte Eintrag vor der Sommerfrische datiert vom 19. Juli: ein Treffen mit dem ukrainischen Premierminister. Dann nichts. Erst vier Wochen später stieg Tusk seinem Kalender zufolge wieder ins offizielle Geschäft ein. Er traf Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Schloss Meseberg.

Ansonsten ist es wie jedes Jahr in Brüssel: Im August steht die EU-Maschine still. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker macht Urlaub, obwohl seine Mitarbeiter gerne ungefragt darauf hinweisen, dass ein Präsident niemals ganz im Urlaub sein könne. In normalen Zeiten wäre dies nicht der Rede wert, aber die Zeiten sind eben nicht normal.

Nach dem Brexit-Votum Großbritanniens steht die Europäische Union vor einer historischen Zäsur. Erstmals in ihrer Geschichte will ein großes Land die Gemeinschaft verlassen. Die Frage ist also, wie es jetzt weitergehen soll. Um den Kern der EU wieder mit Leben zu füllen, hat Tusk zu einem informellen Sondergipfel der 27 EU-Staaten - ohne Großbritannien - am 16. September nach Bratislava geladen. Dieses Treffen will gut vorbereitet sein. Und das braucht Zeit, da die Interessen der einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich sind. In Berlin, Paris und anderen Hauptstädten stellt man deshalb ziemlich unverhohlen die Frage: Darf es in dieser angespannten Situation überhaupt sein, dass "Brüssel" einfach so vier Wochen von der Bildfläche verschwindet?

Besonders in Berlin wird die europäische Sommerpause seit jeher mit einem gewissen Argwohn beäugt (Kopfschütteln inklusive). Kein Wunder also, dass sich allen voran die Bundeskanzlerin gefordert sieht, den Bürgern ein Signal zu geben, wofür dieses Europa steht - und was es in Zukunft leisten soll.

Das Thema, auf das sich alle einigen können, lautet schlicht: mehr Sicherheit

In Brüssel verfolgt man die diplomatische Europa-Tour der Kanzlerin jedoch mit gemischten Gefühlen. "Merkel hat eine Bringschuld, die muss sie nun einlösen", sagt ein EU-Diplomat. Die deutsche Regierungschefin habe es in der Flüchtlingskrise nicht geschafft, die europäischen Partner hinter sich zu versammeln. "Sie hat mit ihrer Politik der offenen Grenzen zu viele vor den Kopf gestoßen", meint der Diplomat. "Merkel muss nun versuchen, sie irgendwie wieder ins große Boot namens EU zu holen."

Die Frage ist nur: Will sich die EU überhaupt von Merkel retten lassen?

Gerade in den osteuropäischen Staaten ist die Skepsis gegenüber dem Kurs aus Berlin groß. Die alte Angst vor deutscher Dominanz und Fremdbestimmung ist zurück. Zumal Deutschland nach einem EU-Austritt Großbritanniens das einzige große Land ist, das keine wirtschaftlichen Sorgen kennt. Andererseits gibt es in vielen EU-Staaten auch die Erwartung, dass Merkel als mächtigste und erfahrenste Regierungschefin die Initiative ergreift.

Ein hoher Beamter, der Europas Gipfeltreffen schon seit Jahrzehnten begleitet, erkennt ein altes Muster: "Viele beklagen sich über die dominanten Deutschen, aber am Ende sind sie froh, wenn es jemanden gibt, der die Gemeinschaft zusammenhalten will." Wer sollte es auch sonst machen? Frankreichs Staatschef François Hollande agiert, acht Monate vor der Präsidentschaftswahl, sichtlich angeschlagen. Er gleicht einem Getriebenen, der weder die Sicherheitslage noch die schwache französische Wirtschaft in den Griff bekommt. Von den Populisten ganz zu schweigen.

Nach dem Brexit-Referendum setzt Merkel nun verstärkt auf Italiens Premier Matteo Renzi, der allerdings im Herbst selbst eine Volksabstimmung mit ungewissem Ausgang zu überstehen hat. Renzi ist aber einer der wenigen, der im Kreis der Staats- und Regierungschefs für mehr Europa plädiert. Auch deshalb hat die Kanzlerin seinem Anliegen nach mehr Ausnahmen beim Stabilitätspakt bei einem Treffen Anfang der Woche entsprochen.

In Brüssel wird seit der Brexit-Entscheidung der Briten vor allem ein Ziel formuliert: "Es geht darum, den Status quo zu halten und ein weiteres Auseinanderdriften der EU zu verhindern", sagt ein Diplomat. "Das einzige Thema, auf das sich alle zurzeit einigen können, ist die Parole: mehr Sicherheit." Also bessere Kontrollen bei der Einreise in die EU, mehr Grenzschutz und Datenaustausch. Die Herausforderungen von Terror und Migration haben eben doch etwas Verbindendes.

Selbst die Regierung in Warschau ist mit Blick auf Russland für eine engere Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nicht zu vergessen: Polen profitiert, ebenso wie Ungarn, mit am stärksten von den EU-Finanzhilfen, über die bald wieder verhandelt werden muss. Nach einem Brexit fürchten beide Länder, wesentlich weniger Geld zu bekommen. "Der größte Nettozahler Deutschland hat sicher nicht vergessen, wer es an Solidarität in der Flüchtlingskrise hat missen lassen", heißt es in EU-Kreisen.

Auch wenn jetzt im September wieder alle in Europa nach Brüssel schauen, es hat sich etwas im europäischen Gefüge verändert. In der Flüchtlingskrise wurde die EU-Kommission von vielen schon als verlängerter Arm des deutschen Kanzleramts empfunden. Bei anderen Themen, wie etwa Freihandel, bremsen die Mitgliedsstaaten die Kommission aus. In Sachen Brexit sorgte allein die Ankündigung Tusks, von Seiten der EU-Staaten einen Chefverhandler ins Spiel zu bringen, für Verstimmung in Junckers Umfeld. "Juncker ist schwach, Tusk tut niemandem weh", meint ein Diplomat ziemlich undiplomatisch. Die Institutionen in Brüssel erlebten einen schleichenden Machtverlust hin zu den Hauptstädten. Wobei eigentlich nur eine gemeint sei: Berlin. Und das nicht nur in der Sommerpause.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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