Europa:Erstmal Entlastung

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Ein historischer Moment: Die Europäische Union stellt den Bündnisfall fest und sichert Frankreich Unterstützung zu.

Von Daniel Brössler

Jean-Yves Le Drian ist nach Brüssel gekommen, um Geschichte zu schreiben. Gesprochen wird nicht, wortlos betritt der französische Verteidigungsminister das Ratsgebäude. Für die Kollegen im Saal hat er einen Lagebericht mitgebracht, den sie so noch nicht gehört haben, und einen Artikel aus den EU-Verträgen, den sie vor Kurzem noch nicht kannten. Jetzt aber ist er da, der europäische Bündnisfall. Und Le Drian fordert ihn nun ein.

Eindringlich schildert er die Terroranschläge vom Freitag und die dramatische Lage im Land. Auf die EU-Verteidigungsminister macht das Eindruck. Emotional versichern sie Frankreich ihre Solidarität, etliche auf Französisch. "Frankreich ist angegriffen worden", stellt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini fest. Es ist eine Feststellung, die von großer Bedeutung ist für das, was Le Drian aus dem Saal heraus per Twitter verkündet:"In Brüssel nehme ich gleich im Namen Frankreichs den Artikel 42.7 in Anspruch."

Das ist der historische Moment. Nie zuvor in der Geschichte der Europäischen Union ist dieser oder ein vergleichbarer Artikel mit Leben erfüllt worden. Wörtlich lautet die Bestimmung: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen." Deshalb ist die Feststellung eines Angriffs auf Frankreich so wichtig. Sie ist Voraussetzung für das französische Hilfeersuchen. Unter den Verteidigungsministern befindet sich keiner, der Frankreich die Bitte abschlagen würde. Nur: Was bedeutet das?

Bei der Nato weiß man so was. Wenn, wie bisher nur einmal nach dem 11. September 2001 geschehen, der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags festgestellt wird, müssen die Alliierten dem Angegriffenen zu Hilfe kommen. Die fast vergessene Formulierung im EU-Vertrag klingt da ganz ähnlich, wirft aber deutlich mehr Fragen auf. Mogherini stellt klar: Es geht um bilaterale Hilfe, also ganz ausdrücklich nicht um eine bewaffnete EU-Mission.

Frankreich verlangt Hilfe bei Auslandseinsätzen. Von der Leyen wiegelt ab

Der französische Verteidigungsminister wird dann aber doch recht konkret. "Frankreich kann nicht alles auf einmal stemmen - die Einsätze in der Sahelzone, in der Zentralafrikanischen Republik, in der Levante und in Libanon, und darüber hinaus das eigene Territorium absichern", sagt er. Darum also geht es: Frankreich erwartet Entlastung . "Jetzt sind alle Europäer gefragt", sagt Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Ansonsten aber ist die Ministerin bemüht, die Dramatik des Moments zu dämpfen. Auf die Frage, was die Aktivierung des Artikels 42.7 denn für Deutschland bedeute, wiegelt sie ab: "Ich glaube, es ist jetzt ganz wichtig, in die vertieften bilateralen Gespräche mit den Franzosen einzutreten."

Nach dem Flüchtlingsschlamassel bietet sich der EU die Chance, den Bürgern ihren Nutzen in der Not zu demonstrieren - eine Wehrhaftigkeit nach außen. Doch dabei bewegt sie sich auf einem Terrain, das für sie immer schwierig war. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, das europäische Einigungsprojekt mit einer Verteidigungskomponente zu versehen, nur wirklich erfolgreich waren sie nie. Anfang der 1950er-Jahre scheiterte die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am Misstrauen in Frankreich gegen Deutschland. Stattdessen wurde eine Westeuropäische Union geschaffen, die nie wirklich mit Leben gefüllt werden konnte. 2011 wurde sie aufgelöst, der nun berühmt gewordene Artikel 42.7 gehört gewissermaßen zur Erbmasse. Und er berührt das heikle Verhältnis zur Nato.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der an der ursprünglich routinemäßig angesetzten Sitzung der EU als Gast teilnimmt, arbeitet gegen den Eindruck an, die Allianz werde von den Franzosen verschmäht. "Es hat keine Bitte gegeben, Artikel 5 zu aktivieren, aber viele Nato-Verbündete haben Frankreich Unterstützung und Hilfe zugesagt", betont er. Im Elysée-Palast habe es, so ist zu hören, zwei Schulen gegeben. Durchgesetzt hat sich schließlich jene, die von Artikel 5 abgeraten hat. Dahinter steht womöglich die traditionelle französische Skepsis der US-dominierten Allianz gegenüber. Hinzu kommt die Einschätzung, dass eine Beteiligung der Nato die Russen verprellen würde. Präsident François Hollande aber will genau das Gegenteil. Ebenso wichtig: In der EU ist Frankreich militärische Führungsmacht; es bittet aus einer Position der Stärke um Hilfe.

Die Franzosen haben sich den Artikel 42.7 sorgfältig ausgesucht. Zur Auswahl gestanden hätte auch der Artikel 222 im EU-Vertrag. Dort ist geregelt, dass Union und Mitglieder "gemeinsam im Geiste der Solidarität" handeln, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag oder einer Naturkatastrophe betroffen ist. "Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel", heißt es da. Frankreich wünscht zwar Solidarität. Es soll aber nicht so aussehen, als brauche es Schutz.

© SZ vom 18.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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