Europa:Ende der Bescheidenheit

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Die Straßburger Rede von Kommissionschef Juncker ist eine Zäsur. Sie will die Krise beenden und zeigt, wie Europas Union sicherer, demokratischer und attraktiver werden kann. Die Staaten sollten ihm folgen.

Von Thomas Kirchner

Wenn man zurückblicken wird auf diese Dekade, wird der 13. September 2017 nicht übergangen werden können. Er muss als Tag notiert werden, an dem die Europäische Union den Versuch unternahm, wieder Tritt zu fassen. Sie hat furchtbare Jahre hinter sich; Krisen, die sie an den Rand ihrer Existenz führten, eine Zeit voller Selbstzweifel und schierer Angst: um Leib und Leben der Bürger, Wohlstand, eine gemeinsame friedliche Zukunft der europäischen Nationen. Unzufriedenheit und Unsicherheit kulminierten im Brexit, dem Auszug eines großen Landes aus dem europäischen Haus.

Die Union hat es überlebt. Offensichtlich ist der Wille zur Einigung stärker als die Kraft jener, die die EU für ein Unglück halten. Mit seiner mutigen Straßburger Rede hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Punkt hinter diese Periode gesetzt, indem er einen Weg skizziert für die Zeit danach. Das Europa, das er entwirft und beschwört, ist ein (wieder) selbstbewussteres Europa. Es ist stolz auf seine Errungenschaften: Frieden, Freiheit, nicht zuletzt Meinungsfreiheit, Wohlstand für viele, wenn auch nicht alle. Es ist stark nach innen, wenn es auf Rechtsstaatlichkeit und Vertragstreue besteht. Und nach außen, wenn es Diktatoren und Populisten die Stirn bietet oder sich mit der vorgeschlagenen Prüfung ausländischer Investitionen von einer gewissen Naivität in der Handelspolitik verabschiedet.

Es ist ein Europa, das gelernt hat. In der Wirtschafts- und Währungspolitik wurde manches korrigiert. Das reicht nicht. Ein EU-Finanzminister muss ebenso kommen wie ein Euro-Haushalt. Und einiges mehr. Was die Sicherheit betrifft, haben die EU-Politiker viel auf den Weg gebracht. Der Kontinent ist nicht mehr so schutzlos, wie er vor Jahren war. Das gilt, summa summarum, auch für die Außengrenzen der EU und den Umgang mit der Flüchtlingskrise.

Kommissionschef Juncker sagt, wie die EU attraktiv werden kann

Aber Junckers Ehrgeiz reicht weiter. Mit stiller Freude kehrt er den Herzenseuropäer heraus, in der Tradition seiner Idole Jacques Delors und Helmut Kohl, lädt alle Staaten ein, endlich den Euro zu übernehmen und dem Schengenvertrag beizutreten. Und bringt Reformen ins Spiel, die Europa mehr Effizienz und Sex-Appeal verleihen könnten: transnationale Wahllisten, eine Fusion der Ämter von Kommissions- und Ratspräsident, mehr Mehrheitsentscheidungen in zentralen Politikfeldern.

Doch ist es eben nicht der vertraute Weg, auf den Juncker zurückkehren möchte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Baumeister der Gemeinschaft glaubten, ihre supranationalen Visionen seien automatisch gut für Europa und müssten den Bürgern quasi wie von selbst gefallen, sie gibt es nicht mehr. Junckers Europa ist ein geläutertes, ein bescheideneres Europa, das nicht mehr alles will und alles verspricht. Das auf seine Bürger hört und achtgibt.

Klingt zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Es ist nicht ausgemacht, dass sich die Staaten nur die Hälfte von Junckers Vorschlägen abringen lassen und auch die Bürger mitziehen. Es könnte sein, dass die nächste Finanzkrise die Währungsunion über den Haufen wirft. Man muss bezweifeln, dass die EU in ihrer Flüchtlingspolitik noch ihrem moralischen Leitstern folgt.

Junckers Grundidee aber ist die richtige. Wenn diese Union vorankommen will, muss sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und sie muss sicherer und demokratischer werden. Dafür kann man kämpfen. Am Ende könnte die EU sogar attraktiver werden. Allerdings könnte auch der eine oder andere Mitgliedsstaat auf der Strecke bleiben, der jetzt hadert mit den Werten, für die Europa steht: Rechtsstaatlichkeit - ohne jede Ausnahme - und Solidarität. Solidarisch kann man nur sein, wenn einem etwas am Herzen liegt. Diese Union, mit all ihren Mängeln, sollte den Europäern am Herzen liegen.

© SZ vom 14.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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