EU:Wie die Zeit vergeht

Lesezeit: 4 min

London versichert, am Terminplan für die Brexit-Verhandlungen festhalten zu wollen. In Brüssel stößt das auf reichlich Skepsis.

Von Daniel Brössler

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. (Foto: dpa)

Es hätte eine gute Nacht werden können. Seine tschechischen Gastgeber haben Jean-Claude Juncker fürstlich untergebracht in einer Suite des Palais Liechtenstein auf der Kampa-Insel in der Moldau. Zur Karlsbrücke sind es nur ein paar Schritte, der Blick auf die Prager Burg ist herrlich. Junckers Gedanken aber schweiften weit weg, nach London. Übertriebene Sympathien für Theresa May werden dem Präsidenten der EU-Kommission nicht nachgesagt. Er hat die Britin als "tough lady" bezeichnet. Ein Abendessen in der Downing Street vor einiger Zeit lief schlecht. Das sickerte durch und sorgte für Ärger. Und doch musste sich Juncker, auch wenn er das nicht gesagt hätte, am Wahlabend einen klaren Sieg Mays wünschen. Klare Verhältnisse, damit die Brexit-Verhandlungen wie geplant am 19. Juni beginnen können. Am frühen Abend glaubte Juncker noch daran, ein paar Stunden später schon nicht mehr.

"Der Staub in Großbritannien muss sich jetzt legen", sagt Juncker am Freitagmorgen vor seinem Auftritt bei einer Konferenz über Sicherheit und Verteidigung in Europa der Süddeutschen Zeitung. Und: "Jetzt sind die Briten am Zug. Wir sind seit Monaten bereit zu verhandeln. Wir können morgen früh anfangen." Michel Barnier, Junckers Chefunterhändler für den Brexit, twittert: "Lassen Sie uns die Köpfe zusammenstecken und einen Deal machen." Das klingt irgendwie nett, doch unklar ist, wie das aussehen könnte. In der Kommission herrscht Fassungslosigkeit über die Lage in London. "Die Scheidungspapiere sind von unserer Seite aus fertig. Sie müssen nur unterschrieben werden", sagt einer. Aber man wisse eben noch nicht einmal, wer von der anderen Seite kommen werde.

Das trifft ein Grundgefühl nicht nur unter Brüsselern. Das Brexit-Votum der Briten liege nun schon fast ein Jahr zurück, sagt der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka während einer Pressekonferenz mit Juncker. "Im Laufe dieses Jahres waren Großbritannien und seine Regierung nicht in der Lage, die Verhandlungen über den Austritt aus der Europäischen Union zu beginnen", rekapituliert er trocken. Ganz anders auf Seiten der EU: Da gebe es eine klare Position der Mitgliedstaaten und ein Verhandlungsmandat an die EU-Kommission. Die EU könne jederzeit mit den Verhandlungen beginnen, betont auch er. Und erinnert auch noch einmal an die Frist: zwei Jahre.

"Wir wissen nicht, wann die Brexit-Gespräche beginnen, aber wir wissen, wann sie enden müssen", twittert EU-Ratspräsident Donald Tusk. Dieser Tag ist der 29. März 2019. Das ergibt sich aus Artikel 50 des EU-Vertrages, der eigentlich nach dem Prinzip Atombombe konzipiert ist - geschaffen zur Abschreckung, nicht zur Anwendung. Der Austritt wird demnach wirksam mit Inkrafttreten eines Austrittsabkommens, spätestens aber zwei Jahre nach der offiziellen Mitteilung eines Staates, dass er auszutreten wünsche. Das wäre ein ungeregelter Austritt mit unabsehbaren Folgen vor allem für das betroffene Land. Die tickende Uhr schafft also ohnehin einen fast unmöglichen Zeitdruck, die schwierige Londoner Regierungsbildung macht nun alles noch schlimmer.

In einem Jahr sind tiefe Gräben des Misstrauens entstanden

Theoretisch wäre es möglich, die Frist zu verlängern. Doch das müssten die Briten beantragen, wofür es keine Anzeichen gibt. Außerdem müssten alle EU-Staaten zustimmen. "Wir sollten jetzt nicht über Fristverlängerungen sprechen", wiegelt Sobotka ab, "sondern die Briten klar auffordern, sofort nach Bildung einer neuen Regierung mit den Verhandlungen zu beginnen." Stunden später kommt aus London tatsächlich die Nachricht, May wolle am Zeitplan festhalten. Was allerdings in der EU mit Skepsis aufgenommen wird. "Die Zeit für den Brexit läuft, es wird keine Verlängerung der Verhandlungen geben. Es ist undenkbar, dass die Briten bei den Europawahlen 2019 teilnehmen", stellt Manfred Weber klar, Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, die dort die stärkste Fraktion stellt. Und eine Mahnung Richtung London fügt er auch hinzu: "Eine Regierung, die auf radikalen Brexit-Befürwortern fußt, wäre für Großbritannien dramatisch. Das Land ist tief gespalten und muss jetzt geeint werden."

Mehrmals hatte May gewarnt, dass die Briten auch ganz ohne Deal austreten könnten. Kein Deal sei besser als ein schlechter. "Ich muss mich nicht mit allen möglichen Szenarien beschäftigen, wenn ich die nicht für realitätstüchtig halte", sagt dazu Kommissionspräsident Juncker. "Ich glaube nicht, dass dieser Satz von Theresa May so verstanden werden sollte, als ob Großbritannien zwei Optionen hätte. Großbritannien hat nur eine Option, nämlich dass es einen fairen Deal gibt. Und es wird einen Deal geben."

In der Praxis wird das kompliziert. Zum einen sind sich Briten und 27er-EU völlig uneinig über Ablauf und Ziel der Verhandlungen. May will möglichst parallel über ein neues Handelsabkommen verhandeln; die EU will erst Klarheit im Streit über die Finanzen und die Rechte von EU-Bürgern im Königreich. Außerdem muss auch das EU-Parlament dem Austrittsabkommen zustimmen. Das wird dauern. "Der britischen Regierung läuft die Zeit davon", warnt Weber. EU-Kommissar Günther Oettinger nennt den Zeitplan "sehr ehrgeizig".

Ein Jahr hat ausgereicht, um tiefe Gräben des Misstrauens zwischen Briten und 27er-EU auszuheben. Ein paar Brücken aber bleiben. Für "unabdingbar geboten" halte er eine Sicherheitspartnerschaft mit den Briten über den Brexit hinaus, sagt Juncker zum Beispiel. "Der Kampf gegen den Terror erlaubt es nicht, dass wir hier nicht zusammenarbeiten. Das ist ein Kampf, den es gemeinsam zu führen gilt, und zwar auf eine intimere Weise, als es mit anderen Teilen der Welt der Fall ist."

Der Brexit an sich aber bleibt auch nach Mays Debakel ein Fakt, an dem niemand rüttelt, auch Juncker nicht. Ganz vorsichtig nähert sich der Luxemburger indes einem anderen Gedankenspiel. Wäre irgendwann ein "Breturn" denkbar, eine Rückkehr der Briten in die Europäische Union? "Wenn ich das jetzt aktiv betreiben oder auch nur beschreiben würde, wäre das der Verhandlungsführung nicht von Nutzen", sagt er. "Wenn das aber so käme, wäre ich nicht derjenige, der das verhindern würde."

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: