EU-Politik:Retten und abschrecken

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Neu geboren: Bernadette Obiona und David Dibonde wurden vom Rettungsschiff Aquarius aufgenommen. An Bord kam ihr Sohn Alex zur Welt. (Foto: Gabriel Bouys/AFP)

Die EU findet kein Mittel, die Flucht über das Mittelmeer einzudämmen. Binnen zwei Tagen zogen Retter 5600 Menschen aus dem Wasser.

Von Andrea Bachstein

Wie viele Menschen aus dem Mittelmeer gerettet werden, weiß man recht genau. Seit Montag waren es allein im Kanal von Sizilien, also auf der Zentralen Mittelmeerroute der Flüchtlinge zwischen Libyen und Italien, 5600 in zwei Tagen. Die Zahlen steigen wieder. Im Sommer schicken die Schleuser mehr unsichere Boote voller Flüchtlinge los. Und, auch wenn er länger und gefährlicher ist, dieser Weg nach Europa ist aussichtsreicher, seit der kurze zwischen Türkei und Griechenland zu ist.

Dieses Jahr (Stand 21. Mai) erreichten der Internationalen Migrations-Organisation (IOM) zufolge 191 134 Migranten und Flüchtlinge übers Mittelmeer die EU. Zur Reise in den Tod wurde das für 1370 Menschen. Wenig Trost, aber es sind über 400 weniger als zur selben Zeit im Vorjahr, das insgesamt 3770 Tote und Vermisste zählt. Und das 2,5 Millionen Quadratmeter große Mittelmeer verschluckt auch Opfer, etliche werden nie gemeldet, die beim Einsteigen in Schlepperboote umkommen. Dass die Zahlen bisher niedriger sind als 2015, liegt für die IOM mit daran, dass kritische Bereiche besser überwacht sind.

An Rettungsaktionen sind viele beteiligt, ein Bild davon gibt, was die italienische Küstenwache, deren Notrufzentrale im ganzen Mittelmeer Einsätze koordiniert, für den 24. Mai mitteilt: Es wurden vor Libyens Gewässern 3000 Migranten gerettet in 23 Einsätzen. Beteiligt waren Schiffe der italienischen Küstenwache, der EU-Mission Eunavformed, ein Schiff der EU-Grenzschutzagentur Frontex, ein Boot der Organisation SOS Méditerranée, ein Handelsschiff, zwei Boote von libyschen Bohrplattformen. Laut Seerecht muss jeder bei Seenot helfen.

Sophia war die späte Antwort auf die unerträgliche Notlage im Mittelmeer

Die Dramatik solcher Aktionen verdeutlicht ein Fall vom Mittwoch. Hier konnten zwei Schiffe der italienischen Marine 550 Schiffbrüchige in letzter Minute von einem kenternden Boot retten, mindestens fünf Menschen ertranken dennoch.

Es könnten jedoch auch weit mehr sein: Laut der Agentur AFP sprachen Überlebende bei Behörden-Befragungen von hundert Vermissten.

Kurz darauf die nächste Schreckensnachricht: Vor der libyschen Küste kenterte laut der dortigen EU-Mission ein Holzboot voller Flüchtlinge, man habe die Leichen von etwa 20 Menschen im Wasser entdeckt, sagte ein Sprecher. Private Organisationen wie Sea-Watch e.V. sind im Kanal von Sizilien unterwegs, um Flüchtlinge zu sichten, drei Schiffe hat "Ärzte ohne Grenzen", Handelsschiffe greifen ein. Küstenwachen, allen voran die Italiens, Boote von Carabinieri und Guardia di Finanza, Marine, Frontex. Aufklärungsflugzeuge gehören dazu, Hubschrauber, Satellitensysteme. Seit einem Jahr sind auch EU-Kräfte vereint in der European Union Naval Force - Mediterranean (Eunavformed)

, die nun Operation Sophia heißt. Sophia war die späte Antwort der EU auf die unerträgliche Lage im Mittelmeer. Im April 2015 waren bis zu 900 Flüchtlinge umgekommen vor Libyen und im Februar bis zu 330 vor Lampedusa. Unter Kommando der Marine Italiens sind an Sophia 22 Länder beteiligt, rund 1300 Militär- und Zivilkräfte. Die Länder kommen für die Kosten auf, die EU gab für das erste Jahr 11,8 Millionen Euro. Hauptauftrag der Mission ist es, Menschenschmuggel zu bekämpfen. Das Geschäft der Schleuser, die laut Frontex 2015 vier Milliarden Euro kassierten. Im Oktober startete Phase II von Sophia, das Aufbringen verdächtiger Schiffe kam dazu. Am Montag beschlossen die EU-Außenminister grundsätzlich, Sophia um ein Jahr zu verlängern, in Phase III soll Libyens Küstenwache mit aufgebaut und Waffenschmuggel bekämpft werden. Was Sophia vorausging, war ein beschämendes Kapitel EU-Politik: Operation Triton begann am 1. November 2014 und sollte Europas Grenzen schützen, wie Operation Poseidon im östlichen Mittelmeer. 2,9 Millionen Euro pro Monat gab es, das Einsatzgebiet beschränkte sich auf 30 Meilen vor Italiens Küste. Nach den Unglücken im Frühjahr 2015 erhöhte im April ein EU-Gipfel - ehe Euronavfmed kam - die Triton-Mittel deutlich, dehnte den Radius aus. Doch das Konzept war humanitär unzulänglich und brachte nicht, was EU-Politiker hofften: Flüchtlinge abzuschrecken.

Denn der Vorwurf an die Seenotrettungs-Operation "Mare Nostrum" zuvor war, dass sie so zuverlässig Flüchtlinge rettete, dass es einer Einladung an Schleuser glich. Mare Nostrum war rein italienisch und, wie Sophia, angestoßen von einer Katastrophe. Am 3. Oktober 2013 starben nahe Lampedusa 366 Menschen. Italiens damaliger Premier Enrico Letta ordnete danach die Mission an. Zu den anderen Kräften kam vom 18. Oktober an die Marine dazu, auch Luftwaffe und Heer waren beteiligt. Die Männer und Frauen von "Mare Nostrum" brachten 150 000 Menschen in Sicherheit. Etwa 9,3 Millionen Euro kostete das im Monat, zu viel für das hochverschuldete Italien. Die EU half nicht, so lief Mare Nostrum am 31. Oktober 2014 aus. Es folgte Triton, trotz Warnungen, dass das Leben kosten würde.

© SZ vom 27.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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