Erfahrungen:Raubtier im Anflug

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Er rast, klingelt und schimpft, achtet weder Bodenbrüter noch Kleinkinder und fühlt sich fast immer im Recht: eine kleine Typologie des Radlrowdys, der fast überall anzutreffen ist.

Von Joachim Käppner

Zur Gattung humanoider Prädatoren gehört der rasende Radler. Er ist ein enger Verwandter der Pistensau, tritt aber im Gegensatz zu dieser vor allem im Sommer in Erscheinung. Der rasende Radler hat in den vergangenen Jahren eine erhebliche Verbreitung erfahren. Der Spaziergänger auf dem Meeresdeiche wird von seiner flüchtigen Erscheinung ebenso verschreckt wie der Waldarbeiter im tiefen Harz. Der rasende Radler ist einzig unter den Arten, weil er jede Kreatur als feindlich ansieht und im Umkehrschlusse von allem gehasst wird, was kreucht und fleucht. Dies wiederum bestätigt ihn, da er sich nicht um die Ursache schert, in seiner Vermutung, ihm geschehe allenthalben das schlimmste Unrecht.

Die Stadt München gehört zu jenen Regionen, in denen die Population des rasenden Radlers am prächtigsten gedeiht. Seinen bevorzugten Jagdgrund bilden die herrlichen Höhenzüge, Berge und Seeufer der näheren Umgebung. Der rasende Radler schweift weithin umher. Er beansprucht für sich ausgedehnte Territorien von erstaunlicher Vielgestalt, er durcheilt die Straßen der Vorstädte ebenso geschwind wie die unwegsamen Abhänge des Wendelsteinmassivs. Treffen zu viele rasende Radler aufeinander, kommt es zu kollektiven, an den letzten Weg der Lemminge gemahnenden Stürzen. Anders als der Lemming kann sich der rasende Radler im Streit um die Schuld in erbitterte Kämpfe mit anderen Radlern verstricken, was für Zoologen Hinweis auf ein ausgeprägtes Revierverhalten ist.

Aus vorstehenden Angaben geht zur Genüge hervor, wie schädlich der rasende Radler sein mag. Seit den Raptoren der jüngeren Kreidezeit hat die Natur keinen solchen Räuber mehr gekannt. Einmal im Rausche, scheidet er den Freund nicht vom Feind; alles niederdrückend ist er der Fluch des kleinsten Bodenbrüters wie des mannhaftesten Wanderers, er schreckt die Rotte Säue nicht minder wie das der Gefahr nicht achtende Kleinkind, das selbstvergessen am Wegesrand dem Spiele frönt. Die Haut des rasenden Radlers wird "Outfit" oder auch "Gore Bike Wear" geheißen. Dieses entspricht gewöhnlich entsprechend seinem grässlichen Charakter, dem Pfeilgiftfrosche gleich trägt er ein schrilles Farbgewand. Die frühere Theorie, damit wolle er der rasenden Radlerin zu Balzzwecken schön tun, gehört ins Reich der Fabel; denn ihre Farbe ist der seinen zum Verwechseln gleich.

Schmerz und Schreck seiner Opfer lassen den rasenden Radler zur Gänze gleichmütig. Der Rechtslage ungeachtet besteht der rasende Radler selbst im dichtesten Aufkommen von Mensch, Tier und Maschine auf jederzeitiger Vorfahrt, die er mittels Geplärr oder eines grellen Signals durchzusetzen trachtet. Deshalb haben schon die Alten sich der Plage zu erwehren gesucht, wie bereits der "Simplicissimus" zur Prinzregentenzeit vom Isarhochufer berichtete. Seinerzeit suchten beleibte Bürger dem rasenden Hochradler mit dem knaufbewehrten Spazierstock zu Leibe zu rücken. Eilen Väter zum Schutze ihres vom rasenden Radler auf dem Familienwanderweg bedrohten Nachwuchses herbei und ballen glaubhaft die Rechte, wird der Radler das Weite suchen.

Bei aller Bosheit ist er doch ein Fluchttier. Denn er hat einen Feind, der ihm an Stärke, Tücke und Gewalt überlegen ist und den verachtet und zugleich fürchtet: Das ist der Autofahrer. Dessen Arten und Unterarten sollen uns ein andermal beschäftigen.

© SZ vom 14.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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