Die Wurzeln des Barack Obama:Die Chicago-Saga

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Ein Mann, eine Stadt, zwei Versionen: Die meisten sehen den Kandidaten in hellem Licht, aber manche schauen auch auf die Schattenseiten.

Reymer Klüver

Cheryl ist so alt wie Barack. Gut, ein paar Monate mehr sind es schon. 47 Jahre ist sie alt, Barack wird das erst im August sein, das weiß sie. Und sie besitzt kein lavendelfarbenes Kleid für 900 Dollar. Ganz bestimmt nicht. Das weiß sie auch. So eines, wie Michelle, Baracks Frau, es trug, als er sich vor ein paar Wochen offiziell zum Präsidentschaftskandidaten seiner Partei erklärte.

Barack Obama spricht vor einer Kirchengemeinde in Chicago. (Foto: Foto: Reuters)

Das hat Cheryl im Fernsehen gesehen. Stattdessen trägt sie einen hellblauen Jeansrock, so oft benutzt, dass der Stoff über der rechten Tasche ganz zerschlissen ist, und ein griesgrau verwaschenes T-Shirt, dessen Farbe wohl einmal Grün war. Schließlich hat es die Aufschrift Environmental Justice, Umweltgerechtigkeit.

Darum geht es Cheryl Johnson, um ein bisschen Gerechtigkeit für die Menschen in Altgeld Gardens, wo sie lebt, und um Schutz vor all dem Dreck in der Erde, im Wasser und in der Luft rund um diese seit Ewigkeiten vernachlässigte Sozialsiedlung für vielleicht 2000 Einwohner, fast ausnahmslos Schwarze, am äußersten Rand der berühmt-berüchtigten South Side von Chicago. Eingeklemmt zwischen Autobahnen, Müllkippen und Autolackierereien.

Deswegen sitzt sie hier in diesem deprimierend dunklen Büro ihrer kleinen Umweltorganisation mit Besucherstühlen, deren mausgrauer Kunstlederbezug die Jahre brüchig gemacht haben, und in dessen abgehängter Decke mehrere der weißen Plastikquadrate fehlen, die sonst die Sicht auf Rohre und Stahlbeton nehmen. Und deswegen, um ihre Umwelt ein bisschen erträglicher zu gestalten, hat sie vor nun schon gut zwei Jahrzehnten zusammen mit ihrer Mutter Barack Obama getroffen. Damals war Obama nach Altgeld Gardens gekommen, um ihnen zu helfen, einer Handvoll engagierter Aktivisten, Asbest aus den tristen Backsteinhäusern ihrer Siedlung zu bekommen.

Mit Macht gegen Ohnmacht

Damals war der junge Obama als Community Organizer nach Chicago gezogen, als Sozialarbeiter, der Menschen in den ärmsten Gegenden der Millionenstadt anleitete, ihre Interessen in die eigene Hand zu nehmen. In seiner Autobiographie "Ein amerikanischer Traum" hat er ausführlich davon erzählt.

Und in kaum einer Rede versäumt er es zu erwähnen, wie prägend diese Arbeit für ihn war. Und tatsächlich: Wer heute mit den Zeugen jener ersten Jahre Obamas in Chicago spricht, wird das schnell bestätigen, allerdings in einem etwas anderen Sinn, als Obama es meint.

Gewiss, sein Engagement für die Benachteiligten der Gesellschaft wird aus jener Zeit rühren, da er als Sozialarbeiter zwischen 1985 und 1988 für Menschen in Chicago tätig war, die keinen Anteil hatten am enormen Wohlstand Amerikas. Aber wichtiger ist vielleicht der Umstand, dass damals in ihm eine Erkenntnis gereift sein muss, die ihn nun, zwanzig Jahre später, auf einen Weg gebracht hat, an dessen Ende das Weiße Haus stehen könnte: Dass man den Benachteiligten in Chicagos South Side, überhaupt in Amerikas zutiefst geteilter Gesellschaft, am Ende nur mit einem wirklich dient - mit politischer Macht.

Man braucht Macht, politische Macht, um den Ohnmächtigen zu helfen. Deshalb spielte er einst mit dem Gedanken, Bürgermeister von Chicago werden zu wollen. Damit hat es nicht geklappt. Jetzt hat er bekanntlich einen anderen Weg eingeschlagen.

Loretta Augustine-Herron kommt ins Schwärmen, wenn sie an ihren Barack zurückdenkt. "Mein Gott, was ist der jung!", hat sie gedacht, als sie ihn 1985 das erste Mal traf. "Aber er sah gut aus. Und vor allem hat er alle für sich eingenommen mit seiner Fähigkeit, auf jeden Einzelnen einzugehen." Ganze Nachmittage und Abende haben sie verquatscht, an ihrem Küchentisch oder in ihrem Wohnzimmer, sie, die fast 20 Jahre ältere Frau und der junge Sozialarbeiter.

Haben geredet über ihr Leben, ihre Versuche, Arbeit zu finden, die versäumte Schulbildung nachzuholen, oder darüber, wie ihre Kirchengemeinde öffentliche Zuschüsse bekommen könnte. "Das war nichts Besonderes für ihn, er wollte alles ganz genau wissen, wie die Dinge lagen. Zwei Tage später rief er dann an und machte einen Vorschlag."

Nur kurz hält die quirlige Frau inne, ihre großen, goldenen Ohrringe wackeln munter weiter, und sagt dann: "Er schießt nicht aus der Hüfte. Er weiß genau, wovon er redet und was er tut." Und ganz klar ist in dem Moment nicht, ob sie nun über den jungen Sozialarbeiter spricht oder den Kandidaten Obama meint.

Auch umgekehrt muss Loretta Augustine-Herron auf Obama Eindruck gemacht haben. In seinem Erinnerungsband hat er sie geschildert, verschlüsselt als Angela, als eine der resoluten Frauen in der South Side, die ihm damals zeigten, wo es langgeht im Leben. Sie stammt ebenfalls aus Altgeld Gardens. Heute lebt sie in einem zugewachsenen Häuschen in Calumet City, einer grünen Vorstadt Chicagos. 65 Jahre ist sie alt. Und sie gibt zu verstehen, dass sie vieles diesem jungen Kerl von damals zu verdanken hat.

"Er hat in uns ungeahnte Fähigkeiten geweckt." Damals war sie in der Kirchengemeinde "Unserer Lieben Frau von den Gärten" aktiv. Obama organisierte die Selbsthilfearbeit für die katholische Gemeinde und eine Reihe weiterer Gemeinden in der South Side. Mit einigem Erfolg: Ein Jobtrainings-Programm entstand, Lehrgänge zur Vorbereitung aufs College wurden geschaffen. Auch die lebenslustige Loretta Augustine-Herron profitierte davon. Vor 15 Jahren hat sie selbst Examen gemacht. Seither unterrichtet sie als Sonderschullehrerin in Chicago und denkt nicht ans Aufhören.

Viel hat sie gelernt. Aber eines, da ist sie sich ganz sicher, hat auch Obama damals gelernt. "Er war immer ein großer Idealist." Sie glaubt, er ist es noch heute. "Er würde als Präsident wirklich vieles von dem einlösen, was er verspricht." Aber damals seien sie trotz all der kleinen Erfolge immer wieder gegen Wände angerannt: "Wenn du nicht mit am Tisch sitzt, bist du nicht an den Entscheidungen beteiligt." Das hat er gelernt. Ihr war es sonnenklar, weshalb Obama seinen Job in der South Side nach drei Jahren aufgab und nach Harvard ging: "Er spürte, dass er mit am Tisch sitzen muss."

Erst naiv, dann pragmatisch

Tatsächlich waren diese Jahre als Sozialarbeiter wohl so etwas wie politische Bildungsjahre für Obama. Das glaubt auch Jerry Kellman, ein nüchterner, fast streng wirkender, grauhaariger Mann von inzwischen Ende fünfzig. Er hatte damals den jungen Barack als Sozialarbeiter in der South Side eingestellt. "Es war der frustrierendste Job der Welt, ohne die geringste Perspektive, schlecht bezahlt", erzählt er in einem Café im wohlhabenden Norden der Stadt, nur ein paar Blocks entfernt vom Lake Michigan.

Kellman macht zwar weiterhin Kirchenarbeit, ist aber auch längst nicht mehr als Community Organizer in der South Side tätig. "Das hält man nicht durch", sagt er. Damals sei Obama ganz erfüllt gewesen von den Gedanken der Bürgerrechtsbewegung. "Er kam als ein idealistischer College-Student. Er hatte keine Ahnung von Politik. Als er ging, war er zwar immer noch ein Idealist. Aber er hat eine gewisse Naivität verloren. Er war sehr viel pragmatischer."

Überhaupt glaubt Obamas erster Boss, einige der Lehren jener Jahre im Wahlkampf heute wiederzuerkennen. "Er zeigte großen Respekt für die Menschen an der Basis, ermöglichte ihnen, sich zu organisieren." Dasselbe Prinzip sieht er nun in der Wahlkampagne Obamas verwirklicht. Tatsächlich haben sich im ganzen Land seit Monaten Hunderttausende freiwilliger Helfer quer durch alle Altersschichten in kleinen Ortsgruppen zusammengetan und machen mit ungewöhnlichem Enthusiasmus, aber auch erstaunlicher Selbstdisziplin Wahlkampf. Als hätten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich politisch zu engagieren.

Barack Obama
:Friedensnobelpreis für den Hoffnungsträger

Bereits in seinem ersten Amtsjahr erhält US-Präsident Obama den Friedensnobelpreis. Damit erhält eine beispiellose Karriere einen weiteren Höhepunkt.

Und dann ist da der neue politische Stil, den Obama immer beschwört und der so viele Amerikaner begeistert nach all der Bitterkeit der Bush-Jahre. "Streiten, ohne sich zu zerstreiten", lautet die Formel, die regelmäßig in seinen Wahlkampfreden auftaucht, wenn er verspricht, Republikaner und Demokraten an einen Tisch zu bringen und das Land zusammenzuführen. Auch das, glaubt Kellman, kommt nicht von ungefähr.

Schon als junger Community Organizer ging Obama persönlichen Konfrontationen aus dem Weg, obwohl die Arbeit, wie er in seinen Erinnerungen selbst schreibt, sehr oft sehr spannungsgeladen war. "Er war ein überaus höflicher, netter junger Mann", sagt Kellman. "In der Gemeindearbeit passiert es sehr oft, dass man die Leute, mit denen man heute streitet, morgen schon wieder braucht. Man reißt keine Brücken ein. Obama weiß das heute noch." Und dann fällt ein Satz, der einem bekannt vorkommt. "Streiten, ohne sich zu zerstreiten", darauf habe sich Obama damals verstanden.

Obama teile die Welt nicht ein in Freund und Feind, sagt Kellman, nicht so, wie es die Clintons immer getan hätten und die Bush-Republikaner. Kellman hat sich seine Gedanken gemacht über den Kandidaten. Und es ist sicher nicht das erste Mal, dass er sie so formuliert. Obamas Wahlkampfmanager haben ihm sogar angeboten, die Kontakte mit den Medien für ihn zu organisieren. Was er dankend abgelehnt hat. Aber er telefoniert schon hin und wieder, zwar nicht mit Obama, aber doch mit seinen Leuten. Die ein oder andere Sprachregelung ist vielleicht ganz hilfreich.

Es ist nicht schwierig, noch weitere einstige Wegbegleiter Obamas in Chicago zu finden, die bis heute von ihm schwärmen. Judson Miner zum Beispiel, den kauzigen Chef der Anwaltskanzlei, in der Obama 1993 als Einser-Absolvent der Elite-Uni Harvard als Associate anfing, als kleiner Zuarbeiter. Miner erzählt, dass er nach einem ersten Lunch mit Obama seine Frau angerufen habe, nur um ihr zu erzählen, "dass ich eben mit dem beeindruckendsten jungen Mann gesprochen habe, den ich je getroffen habe".

Widerstand gegen Irakkrieg

Oder Marilyn Katz, eine der Frauen, die 2002 jene Anti-Kriegs-Demo in Chicago organisierten, bei der Obama seinen Widerstand gegen den damals drohenden Irak-Feldzug bekundete, was ihm später im Kampf um die demokratische Präsidentschaftskandidatur unendlich nutzen sollte. Die PR-Frau zählt noch immer zu seinem weiteren politischen Beraterkreis in Chicago, auch wenn sie augenzwinkernd sagt: "Er fragt mich um Rat - und tut dann das Gegenteil."

Doch es sind auch Stimmen in Chicago zu hören, die laut und vernehmlich rufen, dass es eine andere Seite des Kandidaten Obama geben muss. Zumal er in Chicago politisch groß geworden ist und heute die Stadt und den Bundesstaat Illinois im US-Senat vertritt. Die Stadt gilt in ganz Amerika noch immer als Inbegriff politischer Korruption, wo sich nichts bewegt, ohne dass ein paar materielle Wohltaten verteilt werden.

John Kass ist einer dieser einsamen Rufer, die das Gefühl haben, dass die Nation sie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen will. Kass ist ein Kolumnist der Chicago Tribune und durch und durch ein Gewächs Chicagos. Was nicht nur daran zu erkennen ist, dass er den Namen der Stadt im örtlichen Tonfall stets als Chikogo ausspricht und von Pushcart-Tony, dem legendär korrupten einstigen Bürgermeister Cermak aus den dreißiger Jahren, zu erzählen weiß und von Paul Rico, genannt der Kellner, dem eigentlichen Kopf der Bande Al Capones. Kass kennt Obama seit Jahren. Smart findet er ihn und im Grunde auch ganz nett.

Aber die Zeit in der South Side, von der Obama so gern erzählt, ist nur die eine Seite der Geschichte Obamas in Chicago, sagt Kass auf dem weiten, windigen Platz vor dem Wolkenkratzer der Tribune. Dort ist er gern, weil man ungestört reden - und rauchen - kann. Wirklich geformt habe Obama die Chicagoer Politikmaschine, die ihm bei seinem Aufstieg geholfen hat. "Das offizielle Chicago, der Bürgermeister, alle unterstützen Obama", konstatiert Kass. "Obama sagt, dass er das Land reformieren will. Aber er sagt keinen Ton über die Stadt, die ihn groß gemacht hat, und die Korruption, die dort herrscht."

Der 52-Jährige unterbricht sich kurz, lacht rau. "Wie bringen die Amerikaner das zusammen?" Der schwerreiche Unternehmer Tony Rezko, erst vor ein paar Wochen wegen Bestechung städtischer Angestellter verurteilt, habe Obama über Jahre gefördert, ihm beim Hauskauf geholfen - was Obama inzwischen als Fehler einräumt. Eine Gefälligkeit, wie sie eben üblich sei im politischen Geschäft der Stadt. "Erzählen Sie mir nichts von Reformpolitik!", wettert der langgediente Politikbeobachter, Obama habe in Chicago eines gelernt: dass in der Politik der Zweck die Mittel heiligt. Das, so gibt Kass zu verstehen, hat eigentlich Obama in Chicago politisch geprägt.

Glaswolle statt Asbest

Auch Cheryl Johnson am Stadtrand, in Altgeld Gardens, ist nicht wirklich gut zu sprechen auf Obama. Irgendwie fühlt sie sich, besser gesagt, fühlt sich ihre Mutter Hazel von Obama nicht ordentlich behandelt. In seinem Buch ist Hazel mit keinem Wort erwähnt. Dabei hängen Fotos in Cheryl Johnsons dunklem Büro, die dokumentieren, wie wichtig ihre Mutter damals war. Sie zeigen die alte Dame in Washington, im Weißen Haus. 1992 mit Präsident Bush senior und vier Jahre später mit Bill Clinton. Beide Male wurde sie für ihre Umweltarbeit in Altgeld Gardens ausgezeichnet.

Und schließlich war es ihre Mutter, berichtet Cheryl Johnson, die Obama die Umweltmisere in der Siedlung deutlich gemacht habe, damals, 1985. Und da ging es, so erwähnt sie scheinbar ganz nebenbei, noch gar nicht um Asbest, wie Obama geschrieben hat, sondern, viel profaner, um allergene Glaswolle in Dachisolierungen. Vorwürfe, die sie schon öfter erhoben hatte und die ihren Weg bis in die Los Angeles Times fanden und sofort zu wütenden Protesten der Wahlkampftruppe Obamas führten mit Zeugenaussagen, die Cheryl Johnsons inzwischen gebrechliche Mutter widerlegen sollten.

Irgendwie, so hat man den Eindruck, fühlen sich die Johnsons von Obama im Stich gelassen. Denn in all den Jahren haben sich die Dinge in Altgeld Gardens nicht wirklich verbessert. Im Gegenteil. Inzwischen sind 1300 der 2000 Wohnungen der Siedlung verlassen, die Fenster und Türen mit Sperrholzplatten verrammelt. Und trotzdem habe sich Obama nie mehr um Altgeld Gardens gekümmert. "Man geht doch nicht, wenn die Lage sich verschlechtert." Nur einmal sei Obama wieder da gewesen, im letzten Herbst, mit einem Fernsehteam. Aber in ihrem Büro schaute er nicht vorbei. Bei der Vorwahl hat Cheryl Johnson dann für Hillary Clinton gestimmt.

Immerhin, sagt sie am Ende versöhnlich, wenn Obama gewählt würde, gäbe ihrer Familie die Bekanntschaft "das Recht, damit ein bisschen anzugeben". Wer kann schließlich schon von sich sagen, dass bei ihm einmal der spätere Präsident Amerikas im Wohnzimmer gesessen hat? Im November wird Cheryl Johnson mit Sicherheit wählen. Obama.

© SZ vom 26.06.2008/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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