Deutschland:Paradies mit Fehlern

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Deutschland hat seine Identität gefunden, und sie hat wenig mit Rasse, Sprache oder Religion zu tun. Das ist gut: Jeder kann Teil der Nation werden, wenn er den liberalen Grundkonsens des Landes bejaht.

Von Stefan Ulrich

Die Frage, die sich der Schriftsteller Ernest Renan an der Pariser Sorbonne stellte, war schwierig: Was ist eine Nation? Renan kam damals, 1882, zu einer verblüffend modernen Antwort. Demnach ist weder die Rasse noch die Sprache, weder die Religion oder die geografische Lage entscheidend, sondern ein Willensakt. Eine Nation, so der Redner, ist eine große Solidargemeinschaft, die sich ihrer Vergangenheit erinnert und den Wunsch hat, das gemeinsame Leben fortzusetzen. "Die Existenz einer Nation ist ein tägliches Plebiszit", sagte Renan. Dieses Plebiszit wird heute in Deutschland, 25 Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigung, Tag für Tag gewonnen.

Die überwältigende Mehrheit der Deut-schen möchte, trotz aller Opfer, die das Zusammenwachsen besonders den Menschen im Osten abverlangte, die Zukunft gemeinsam gestalten. Insoweit wirkt die Zuversicht des Anfangs, des Mauerfalls, weiter. Die Wiedervereinigung, dieses Experiment der Geschichte, ist im Grundsatz gelungen. Nun würden die meisten Deutschen die Einheit gern in Ruhe vollenden, um dann die Früchte der Anstrengungen zu genießen. Unbehelligt von den Wirren der Welt.

Das ist verständlich. Nur: Deutschland ist zu stark und groß, um sich eine solche Biedermeierhaltung leisten zu dürfen. Die Außenwelt drängt heran. Einwanderer, die auch künftig zu Hunderttausenden kommen werden, möchten wissen, wer dieses Deutschland ist, in dem sie sich integrieren sollen. Und die anderen Staaten, in der Europäischen Union und außerhalb, fragen, wie die Deutschen ihrer Mitverantwortung für Europa und die Welt gerecht werden wollen.

Die Frage "Wer sind wir?" muss also nicht nur deswegen angegangen werden, weil sich das zu Einheitsfeiern gehört. Antworten zu suchen, ist mehr als typisch deutsche Nabelschau. Es ist notwendig, damit die Aufnahme der Zuwanderer gelingt und die Bundesrepublik ein berechenbarer Partner anderer Länder bleibt.

Wer heute nach der deutschen Identität fragt, sollte nicht im alten Deutschland-Mythos stöbern, der in Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Frankreich entstand und den Deutschen die Rolle einer politikfernen Dichter-und-Denker-Nation mit Vorbildcharakter für den Rest der Welt einräumte. Diese Haltung kippte später in Hybris, den Nationalismus des Kaiserreiches und den Rassenwahn des Dritten Reiches um. Das heutige Deutschland hat sich in der radikalen Abkehr von jenem Irrweg gebildet. Es definiert sich als liberaler Rechtsstaat westlicher Prägung, in dem die Menschenrechte gelten und jeder, im Rahmen der Gesetze, nach seiner Façon glücklich werden soll.

Wer nach Deutschland kommt, muss sich auf den Grundkonsens einlassen, der dieses Land zusammenhält

Doch Deutschland ist mehr. Es hat eine humanere Form des Kapitalismus geschaffen, die soziale Marktwirtschaft, die zwar vom Götzen globaler Konkurrenzfähigkeit bedroht wird, aber lebendig ist. Es agiert als Konsensgesellschaft, in der Interessengruppen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber etwa, auf Kompromiss statt auf Kampf setzen. Es misstraut, in Reaktion auf seine Nazi-Vergangenheit, der Macht und verteilt sie auf viele Akteure. Und es weiß sich einer Politik des Friedens, der Toleranz und der besonderen Rücksichtnahme auf Israel verpflichtet.

Wer nach Deutschland kommt, muss sich auf diesen Grundkonsens einlassen; er muss Ja beim Plebiszit sagen - was die Lehren aus der Vergangenheit und was die Zukunft anbelangt. Dann kann er Teil der Nation werden - egal, woher er stammt.

Das ist ein anspruchsvolles Konzept, besonders für Menschen, die aus Kulturen mit ganz anderer Geschichte kommen. Dennoch gehört Deutschland zu den beliebtesten Einwanderungsländern der Erde. Weil es funktioniert und prosperiert. Weil "deutsche Tugenden" wie Rechtstreue (VW zum Trotz) eine Basis für das Zusammenleben schaffen. Deutschland ist heute, mit all seinen Fehlern, aus der Sicht von Millionen Menschen in vielen Ländern ein Paradies. Damit es so bleibt, müssen Gesellschaft, Politik und Justiz die Achtung der Grundregeln einfordern und Extremisten bekämpfen, egal, ob sie sich unter alten oder neuen Bürgern finden.

Im Inneren kennt Deutschland seine Identität, im Äußeren muss es sie finden. Die Zeit, da sich die Bundesrepublik auf die Rolle als Wirtschaftsmacht beschränken und (sicherheits-)politisch zurückhalten konnte, ist vorbei. Die Partner, etwa in der EU, erwarten mehr Engagement. Dabei sind die Forderungen manchmal widersprüchlich. Deutschland soll großzügig sein, gegenüber Griechenland, aber nicht zu großzügig gegenüber Flüchtlingen. Es soll führen, aber bitte ganz sanft. Deutschland wird es nicht allen recht machen können. Wichtig ist, dass es sich den Weltproblemen stellt, vom Klimaschutz bis zum Terror. Bundespräsident Joachim Gauck forderte zu Recht, Deutschland müsse sich "früher, entschiedener und substanzieller einbringen".

In mancher Hinsicht tut das die Bundesregierung bereits. Beim Klima, im Ukraine-Konflikt, bei der Griechenland-Rettung. In der EU schlägt ihr nun allerdings der Vorwurf entgegen, zu sehr ihre nationalen Interessen durchzusetzen, etwa in der Finanzpolitik. Mancher sehnt sich nach Zeiten zurück, in denen Helmut Kohl sagte: "Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld."

Nun ist es legitim, wenn Deutschland nach Jahrzehnten der Zurückhaltung jetzt - wie andere EU-Staaten seit Langem - offener nationale Interessen verfolgt. Doch das sollte nicht übertrieben werden. Denn auf dem Weg in Europas Zukunft lauert ein Gespenst aus der Vergangenheit: der Nationalismus. Er gedeiht am Rande der EU, in Russland, in der Türkei; aber auch in ihr, etwa in Ungarn. Nationalistische Parteien haben in vielen EU-Staaten Zulauf. Deutschland blieb dieses Übel bislang weitgehend erspart. Das kann sich in wirtschaftlich schlechteren Zeiten aber rasch ändern.

Europa muss seine neonationalistische Phase, in der es steckt, überwinden und ein Wir-Gefühl entwickeln, um zu überleben. Hierbei kann Deutschland Führungskraft zeigen. Auch dann wird Europa nicht die Nationen ablösen, wie Renan prophezeite. Ein Plebiszit der Bürger in Renans Sinne würde die EU verlieren.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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