Der Auftritt:Weckruf aus dem Tempel des Wissens

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Warum der französische Präsident an der Sorbonne in Paris spricht - und wen er mit seinen Visionen und Forderungen aufrütteln will.

Von Leo Klimm

"Beginnen wir. Heute": Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verlangt in seiner Rede an der Sorbonne tief greifende Reformen in der EU. (Foto: Ludovic Marin/AFP)

Fast eine Stunde dauert es, ehe Emmanuel Macron den Knackpunkt anspricht. Den Punkt in seiner Rede, der so sensibel ist für Deutschland. "Eine Wirtschaftsmacht kann nur um eine Einheitswährung herum gebaut werden", sagt Frankreichs Präsident. "Dafür brauchen wir ein gemeinsames Budget für Kerneuropa", für die Euro-Zone. Einen Haushalt, den Macron aus Steuereinnahmen der Euro-Länder speisen will. "Da muss jeder zu seiner Verantwortung stehen." Das geht an Deutschland. Er schaut auf. Gespannte Stille im "Grand Amphithéâtre" der Sorbonne.

Macron hat nicht zufällig die ehrwürdige Universität gewählt für seinen Weckruf an Europa. Wie immer bei französischen Präsidenten geht es auch um Symbole. Erst neulich hatte er über mehr Demokratie in der EU gesprochen, auch da vor passender Kulisse: der Akropolis in Athen. Am Dienstag nun steht er in der alten Aula der Sorbonne. Draußen lärmen Studenten gegen seine Reformen in Frankreich an, drinnen, auf den hölzernen Rängen, sitzen die Braveren. Die viel kritisierte EU hat die Jugend des Kontinents hier zusammengeführt. Es ist eine der ältesten Universitäten der Welt, ein Tempel des Wissens und der Aufklärung. Geht es mit dem Fingerzeig noch deutlicher?

Der Präsident will "Europa neu gründen". Den Partnern in der EU und der Euro-Zone, die vielleicht nicht ganz so weit zu blicken vermögen wie er, den Weg leuchten. Besonders dem wichtigsten aller Partner, Deutschland. Nach der Bundestagswahl erscheint es auf einmal nicht mehr so europhil, wie man das in Paris jahrzehntelang gewohnt war. Eine Grundsatzrede, die den Trend umkehrt, nichts weniger ist Macrons Anspruch. Eine Vision, die nach einem Jahrzehnt der Krise und dem Brexit eine Vertiefung der EU und die Unabhängigkeit von den USA und China ermöglichen soll. Weil Europa in der neuen Weltunordnung sonst der Untergang drohe.

Macron warnt: Heute gehe es für Europa - das Projekt, das zur Überwindung des Hasses gegründet wurde - wieder ums Ganze. "Der Nationalismus ist in neuen Kleidern zurückgekommen, gerade in den vergangenen Tagen", sagt Macron. Eine unmissverständliche Anspielung auf das Ergebnis der AfD bei der Bundestagswahl.

Macron will ganz unverhohlen Einfluss nehmen auf die Koalitionsverhandlungen in Berlin

Der junge Präsident stellt dem "ein souveränes, ein einiges, demokratisches Europa" entgegen. Vor allem selbständiger soll es sein. Macron nennt sechs Punkte. Er fordert den resoluten Ausbau der Euro-Zone mit eigenem Haushalt und eigenen, demokratisch legitimierten Institutionen und will die gemeinsame Verteidigung stärken. Er verlangt ein gemeinschaftliches Verfahren für die Aufnahme von Zuwanderern und eine Transaktionssteuer zur Finanzierung der Entwicklungshilfe. In Zeiten der digitalen Umwälzung soll Europa eine Internet-Macht sein, die sich von keinem vorführen lässt, schon gar nicht von amerikanischen Steuervermeidern wie Google. Und: Dieses Europa soll eine Energiewende schaffen, die anderen ein Vorbild ist.

Von Deutschland aus betrachtet kann die Begeisterung des jungen Staatschefs leicht deplatziert wirken. Thema verfehlt, könnte man sagen, zwei Tage nach einer Bundestagswahl, aus der die Europa-Gegner von der AfD stark wie nie hervorgegangen sind. Eine Wahl, die, sollte die Jamaika-Koalition zustande kommen, in der künftigen Bundesregierung wohl just jene in Union und FDP stärkt, die Macrons Idee vom vertieften Europa samt massiven Geldtransfers nicht teilen. Doch für den Präsidenten ist dieses neue Europa, ganz im Gegenteil, genau jetzt das Thema. Er will unverhohlen Einfluss nehmen auf die Koalitionsverhandlungen beim Nachbarn.

Natürlich hat Macron gehofft, die Bundestagswahl würde seinen Ideen Schub verleihen. Im Élysée hatte man eher mit einer neu legitimierten großen Koalition gerechnet. Der Sturm-und-Drang-Europäer Macron hat die Bundestagswahl 2017 seit Jahren sehr ungeduldig erwartet. Lange bevor er sich zur Abkehr von seinem Mentor François Hollande entschied und dafür, sich im Frühjahr selbst um Frankreichs höchstes Amt zu bewerben, sah Macron den September 2017 als Starttermin für grundlegende Reformen in Europa: "Die können wir dann von Herbst 2017 an umsetzen, wenn die nationalen Wahlen in Frankreich und in Deutschland hinter uns liegen", sagte Macron, damals Wirtschaftsminister, schon 2015 in einem SZ-Interview. Seine Vorschläge für die Währungsunion, die Merkels Umfeld in ihrer Radikalität nun angeblich überraschen, deklinierte er damals bereits detailliert durch.

Jetzt will Macron die Europäer und die Deutschen mitreißen. Die neue Skepsis zerstreuen, Vertrauen schaffen. Dafür geht er in Vorleistung: Er lässt wohl zu, dass Siemens Alstom übernimmt, den Hersteller des Prestigezugs TGV, um einen "Schienen-Airbus" zu formen. Er verweist auf die innenpolitischen Reformen, die er nicht zuletzt unternehme, um auch in Berlin an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. "Genau wie die Strukturreformen in Frankreich gehört die Reform Europas zu unserem Wahlauftrag", heißt es im Élysée. "Aber es geht nicht darum, den anderen unsere Ideen aufzunötigen." Natürlich nicht.

Vor der Bundestagswahl hatte Merkel eine gewisse Offenheit signalisiert, etwa für den Euro-Haushalt und einen eigenen Finanzminister. Nach der Wahl zeigt sich die Kanzlerin vorsichtiger. Im Gegensatz zu Macron findet sie, es sei nicht der Moment für diese Diskussionen. Und FDP-Chef Christian Lindner spricht schon von "roten Linien" bei der Reform der Euro-Zone. In der Sorbonne antwortet ihm Macron: "Ich kenne keine roten Linien!" Über Angela Merkel aber sagt er: "Wir haben den selben europäischen Ehrgeiz. Ihre Reaktion wird nicht Ablehnung sein. Sie wird mit Mut antworten." Er bietet Merkel sogar einen neuen deutsch-französischen Élysée-Vertrag an. Applaus im Grand Amphithéâtre.

Macron redet lange, laut und leidenschaftlich. Er hat viele Ideen. Eine EU-Innovationsagentur, eine Ausweitung des Erasmus-Austauschs für Jugendliche, grenzüberschreitende Kandidatenlisten bei der Europawahl. Er spricht von der Einheit des Kontinents, bietet aber an, dass willige Länder vorangehen. Bis Sommer 2018 möchte er einen gemeinsamen Reformplan. Macron ruft: "Lasst uns keine Angst haben!" Auch das geht an Deutschland.

© SZ vom 27.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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