Demokratie in Ungarn:So hebelt man einen Rechtsstaat aus

Die Regierung von Ungarn hat das Verfassungsgericht faktisch entmachtet. Dieser Prozess verlief schleichend und trickreich. Wenn die Regierungsmehrheit jetzt beschließen würde, Frauen das Wahlrecht zu entziehen, könnte niemand sie mehr aufhalten. Auch nicht die EU. Wie konnte es so weit kommen?

Ein Gastbeitrag von Csaba Györy

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Demonstranten protestieren im März 2013 in Budapest gegen die Verfassungsreformen der Regierung Orbán

(Foto: AFP)

Der ungarische Jurist Csaba Györy, 32, ist Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau. Außerdem lehrt er Strafrecht und Kriminologie an Universitäten in Ungarn.

Stellen wir uns vor: Eine deutsche Regierung hat eine verfassungsändernde Mehrheit. Nachdem das Bundesverfassungsgericht ein für die Regierung wichtiges Gesetz für verfassungswidrig erklärt hat, reagiert diese damit, die betroffenen Vorschriften unverändert ins Grundgesetz zu heben. Ist die Missachtung der Rechtsstaatlichkeit im Einzelfall schon das Ende des Rechtsstaats? Ab wann könnte man sagen, der Rechtsstaat sei in der Gefahr? Wenn so etwas fünf Mal passiert? Oder zehn Mal? Das lässt sich natürlich nicht quantifizieren.

Zwischen Rechtsstaat und Machtanspruch

Ein funktionierender Rechtsstaat kann nicht über Nacht abgeschafft werden. Dazu gibt es zu viele Orte, an denen sich Widerstand konzentrieren kann. Der Abbau des Rechtsstaats ist vielmehr ein langer Prozess: Er besteht aus kleineren Schritten, die an sich nicht unbedingt bedrohlich erscheinen, und, wenn problematisiert, leicht als realitätsferne Juristerei diskreditiert werden können.

Die jetzige - vierte - Verfassungsänderung, gegen die die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren erwägt, ist der Endpunkt einer Erosion des ungarischen Rechtsstaats. Dahinter steckt nicht unbedingt ein diabolischer Plan der Machtergreifung: sondern ein Abdriften, bestehend aus mehreren Schritten, in denen eine Regierung, vor der Wahl zwischen Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit und dem eigenen Machtanspruch stehend, fast immer den letzteren gewählt hat. Angekündigt war etwas ganz anderes.

Erste Konflikte

2010 erreichte die rechtskonservative Partei Fidesz mit einem Erdrutschsieg eine Zweidrittelmehrheit im Parlament - die Verfassungsmehrheit. Die Regierung, die einen groß angelegten Umbau des Staates verkündete, begann bald, eine neue Verfassung vorzubereiten. Das neue Grundgesetz, von der Regierung als Vollendung der Wende bejubelt, wurde zügig verabschiedet. Es behielt die bisherige Staatsorganisation bei, die Grundrechte blieben bestehen. Es wurde auch ein separates Gesetz, die "Übergangsvorschriften", verabschiedet, das sich Verfassungsrang attestierte, selbst aber nicht Teil der Verfassung war.

Hungary's PM Orban gives a speech during an agricultural conference in Budapest

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán: Er kann mittlerweile durchregieren

(Foto: REUTERS)

Es kam bald zu den ersten Konflikten zwischen der Regierung und dem Verfassungsgericht. Als etwa das Verfassungsgericht eines der Lieblings-Gesetzgebungsprojekte der Regierung, ein Steuergesetz, kippte, reagierte die mit der Beschneidung der Befugnisse des Verfassungsgerichts. Die Übergangsvorschriften wurden um einen Artikel ergänzt, der die Gesetze, die die Finanzen des Staates regeln, einer verfassungsgerichtlichen Prüfung entzog.

Aus Tricks wurde System

Und aus diesem juristischen Trick wurde System: Sobald das Verfassungsgericht eine für die Regierung maßgebliche Regelung für verfassungswidrig erklärte, reagierte diese oft damit, besagte Regeln in die Übergangsvorschriften der Verfassung zu heben. Diese wurden bald zu einer mit Verfassungsrang ausgestatteten Deponie verfassungswidriger Regeln, und jener Vorschriften, die zwar nicht in die Verfassung gehörten, die man aber einer verfassungsgerichtlichen Prüfung entziehen wollte.

Auf diese Problematik reagierte das Verfassungsgericht, indem es wiederum die Übergangsvorschriften für nichtig erklärte: Diese attestierten sich Verfassungsrang, seien aber nicht Teil der Verfassung; ferner könnten Vorschriften, die langfristig die Lebensverhältnisse der Bürger regelten, nicht als "Übergangsvorschriften" bezeichnet werden. Da es die Übergangsvorschriften schon aus formalen Gründen verfassungswidrig befand, sah das Gericht davon ab, diese inhaltlich zu prüfen. Womöglich ein großer Fehler.

Denn die Reaktion der Regierung war, die eben als verfassungswidrig erklärten Übergangsvorschriften größtenteils in die Verfassung selbst zu schreiben. Nur in diesem Kontext ist zu verstehen, was die jetzige Verfassungsänderung bedeutet. Mit der perfiden Argumentation, man leiste damit nur den Anforderungen des Gerichts Folge, wurden die Übergangsvorschriften, darunter viele, die früher schon als materiell verfassungswidrig befunden worden waren, in die Verfassung gehoben.

Letzte Hoffnung: Der Präsident

Die Regierung war außerdem klug genug, die Änderung mit positiv klingenden Vorschriften zu ergänzen. Es wurde etwa der Kreis der Antragsteller bei der abstrakten Normenkontrolle erweitert. So kann behauptet werden, dass das Verfassungsgericht Gesetze weiterhin nicht nur ohne Einschränkung prüfen kann, sondern dass dessen Befugnisse sogar erweitert wurden.

Das ist alles wahr. Welchen Stellenwert hat aber die Überprüfungsbefugnis des Verfassungsgerichts, wenn die Regierungsmehrheit dessen Entscheidungen nicht respektiert, und für verfassungswidrig befundene Regelungen später in die Verfassung schreibt? So kann das Verfassungsgericht, welch breite Befugnisse es auch haben mag, seine Rolle im System der Gewaltenteilung nicht mehr wahrnehmen.

Verfassung nach Belieben

Es hätte allerdings noch eine letzte Verteidigungslinie gegeben: den Präsidenten. Er hätte das Verfassungsänderungsgesetz vor Unterzeichnung vom Verfassungsgericht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen können. Doch die Regierungsmehrheit wollte zukünftig auch diesen letzten Garanten für verfassungsmäßige Gesetzgebung aus dem Weg räumen.

Das Gesetz fügt der Verfassung einen neuen Artikel zu, der ausdrücklich regelt, dass der Präsident die Verfassungsänderungsgesetze nur auf ihre formelle Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen kann. Präsident János Áder hat das Gesetz untergezeichnet. Ab jetzt hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament also die Möglichkeit, die Verfassung nach Belieben zu ändern.

Es ist rein rechtlich richtig zu behaupten, dass eine Verfassungsmehrheit in vielen europäischen Staaten die rechtliche Möglichkeit besitzt, Regelungen, die vorher für materiell verfassungswidrig befunden worden waren, in die Verfassung zu heben. Eine Mehrheit, die die Verfassung respektiert, macht so etwas aber nicht. Aber gerade dazu hat sich die ungarische Regierungsmehrheit systematisch bereit gezeigt. Wenn etwa die Regierungsmehrheit morgen beschließen würde, in der Verfassung zu verankern, dass Frauen kein Wahlrecht haben, gäbe es damit jetzt im nationalen ungarischen Recht keine Handhabe mehr, dagegen vorzugehen. Der Präsident wäre, falls alle prozessualen Regeln der Gesetzgebung eingehalten wurden, dazu verpflichtet, diese zu unterzeichnen.

Natürlich kann man behaupten, dies seien absurde Gedankenspiele. Keine Zweidrittelmehrheit würde so etwas tun. Vielleicht geht das Beispiel viel zu weit. Das ändert den Kern der Sache aber nicht: Ab jetzt wären der Regierung solche Beispiele des vollkommenen Durchregierens möglich. Ab jetzt existiert der Rechtsstaat in Ungarn nur von Regierungs Gnaden.

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