Demenzkranke:Mit Tabletten ruhiggestellt

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Fast jeder zweite der Demenzkranken in Pflegeheimen erhält Psychopharmaka. Das ist gefährlich wegen der Nebenwirkungen: Es häufen sich Todesfälle, Schlaganfälle und Stürze.

Von Thomas Öchsner, Berlin

In Deutschlands Pflegeheimen erhalten Demenzkranke zu viele Psychopharmaka, um sie ruhigzustellen oder ein aggressives Verhalten einzudämmen. Dies zeigt eine vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Untersuchung der Klinischen Pharmakologin Petra Thürmann (Uni Witten/Herdecke). Danach erhält fast jeder Zweite der Demenzkranken in Pflegeheimen ein Neuroleptikum. Diese Medikamente seien eigentlich zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Schizophrenie gedacht. Nur wenige Wirkstoffe seien zum Einsatz bei Demenzkranken zugelassen - dies aber nur für bis zu sechs Wochen, sagte Thürmann. Trotzdem verordneten Ärzte die Medikamente bei 43 Prozent dieser Heimpatienten dauerhaft, obwohl dies gegen Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften verstößt.

Vorsicht, Nebenwirkungen: Es häufen sich Todesfälle, Schlaganfälle und Stürze

Die Studie der Professorin, die dem Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen angehört, beruht auf einer Erhebung bei knapp 1000 Bewohnern in deutschen Altenheimen. Die Untersuchung ist Teil des AOK-Pflegereports, den die Krankenkasse in Berlin vorstellte.

Dabei warnte Thürmann vor den Nebenwirkungen der Neuroleptika. "Der Nutzen ist nicht besonders groß, aber dafür kaufen wir uns relativ viele Risiken ein", sagte die Expertin. So häuften sich durch einen mehr als drei Monate langen Einsatz bei Demenz-Erkrankten mit Verhaltensstörungen Todesfälle, Schlaganfälle und Stürze beim Gehen. Zugleich wies die Professorin darauf hin, dass in anderen Ländern wie Schweden, Frankreich oder Finnland Pflegebedürftige mit Demenz deutlich seltener Psychopharmaka in Heimen erhalten. Für den Chef des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, "hat das nicht unbedingt mit mehr Geld oder mehr Personal zu tun". Vielmehr sei dies eine Frage der pflegerischen Konzeption. In den Niederlanden etwa gebe es schon lange in Heimen warme Räume, in denen man, umgeben von leisen Klängen und Melodien, Lichteffekte betrachten kann. Dies solle Erinnerungen wecken, die Menschen entspannen, ihnen Ängste nehmen.

Mehr als die Hälfte der Pflegekräfte gab in einer AOK-Umfrage jedoch an, dass sich solche nicht-medikamentösen Verfahren wegen des Zeitdrucks in der Pflege teilweise oder gar nicht umsetzen ließen. 82 Prozent halten die Verordnung der Psychopharmaka für angemessen. Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, kritisierte den Personalmangel in den Heimen. Seien die Pflegekräfte überlastet, bestehe die Gefahr, dass Menschen häufig ruhiggestellt würden. Die Stiftung Patientenschutz machte die Ärzte für eine "nicht fachgerechte Verschreibung" von Neuroleptika verantwortlich.

Aus dem AOK-Pflegereport geht hervor, dass der Einsatz von Psychopharmaka bei allen Pflegebedürftigen von mindestens 65 Jahren weit verbreitet ist. So erhält jeder Fünfte in Deutschland ein Medikament gegen Depressionen, jeweils fünf Prozent zur Beruhigung oder gegen Ängste. 19 Prozent bekommen ein Neuroleptikum. Unter den Demenzkranken sind es 32 Prozent - ein deutlich geringerer Wert als in den Pflegeheimen.

© SZ vom 06.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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