Degler denkt:Deutsche Lehrstunden

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Als sich die wohlwollend als gesellschaftliches Experiment titulierte DDR als graues Land entpuppte: Erinnerungen an den Herbst 1989, als Ossis und Wessis zum ersten Mal aufeinandertrafen.

Dieter Degler

Meine Generation gehört zu den Glücklichen, die nicht aus eigener Erfahrung wissen, was eine Diktatur ist. Wir haben über die Hitlerzeit mehr gelesen als uns unsere Großeltern und Eltern erzählen konnten. Wir haben gegen Militärjuntas in Chile und Griechenland demonstriert, gegen den Vietnamkrieg, fanden Franco widerlich und etliche afrikanische Gewaltherrscher entsetzlich.

Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls am Brandenburger Tor in Berlin. Die DDR: Was viele wohlwollend für ein gesellschaftliches Experiment gehalten hatten, entpuppte sich als graues Land, das geistig, politisch und ökonomisch eine Katastrophe war. (Foto: Foto: dpa)

Gegen Honecker haben wir nicht demonstriert. Die Deutsche Demokratische Republik galt unter den Nachachtundsechzigern nicht als Schurkenstaat, sondern als sozialistisches Experiment. Es gab Deutschland, die Rentner- und Wehrdienstverweigererinsel Berlin und die DDR. Ein Versuch, irgendwo zwischen dem jugoslawischen Modell, dem Chile Allendes und Castros Cuba.

Lass die da drüben doch mal probieren, ob sie was Besseres hinbekommen als wir hier im Westen, war das unausgesprochene Motto. Nur, wenn man auf der Transitstrecke nach Berlin von DDR-Grenzern kontrolliert wurde, merkte man, dass irgendwas im Osten falsch lief.

Die deutsche Einheit lag den meisten Linksliberalen damals jedenfalls nicht am Herzen, das war Sache der rechten Ultras ("Deutschland dreigeteilt - niemals") und der Springer-Presse. Und dieses Nichtwollen hielt bei manchen noch bis nach dem Mauerfall an. "Ich will nicht wiedervereinigt werden", schrieb Spiegel-Chefredakteur Erich Böhme lange nach dem 9. November 1989 in seinem Blatt.

Ehrlich gesagt, wusste ich - wie viele im Westen - nicht recht, was ich von der überraschenden Entwicklung halten sollte. Deshalb ging ich noch im November 1989 nach Ostberlin und wurde dort Chefredakteur einer Tageszeitung.

Journalismus, wie er in Demokratien verstanden wird, gab es drüben nicht, konnte es nicht geben. Er musste gelehrt und erlernt werden. Und wir Wessis waren die Lehrer - dachten wir.

Was das Recherchieren und Schreiben anbelangt, klappte das ganz ordentlich, ein Redakteursteam wurde - als erste Kollegen einer Ost-Zeitung - mit den Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet (Es gab allerdings auch Autoren, meist älter als 50, die so systemdeformiert waren, dass sie ihre Chancen nicht nutzen konnten). Aber es gab auch Lehrstunden, die genau andersherum abliefen: Wir lernten neue Worte wie "mitschneiden" (für verstehen) und "durchstellen" (einer Aufforderung von Vorgesetzten nachkommen), und wir stellten fest, dass wir zwar fast jeden Vorort von Ho-Chi-Minh-Stadt kannten, aber keinen Schimmer hatten, wo Gera lag.

Das Entscheidende aber war, dass wir erfuhren, was Unfreiheit ist und bewirkt. Was heute die Zuschauer von "Das Leben der Anderen" berührt, gab es wirklich, war Alltag. Unschuldige Menschen wurden ausspioniert, Sichtweisen, die nicht zur SED- und Staatsdoktrin passten, führten zu schmerzlichen Abmahnungen. Auf abweichendes Verhalten reagierte die Obrigkeit mit der Zerstörung von Lebensplänen, Fluchtversuche wurden mit Gefängnis oder gar dem Tod bestraft. Kurz: Die DDR war ein Unrechtssystem, das freies Denken, Kreativität und Leistungsbereitschaft zu vernichten trachtete und Duckmäusertum, Anpasserei und Speichelleckerei beförderte.

Es gab eine Kollegin, die jahrelang von ihrem Mann an die Stasi verraten wurde. Es gab Teenager, die ihre Eltern bespitzelten. Und es gab hochbegabte Leute, die ein halbes Leben lang auf Hilfsarbeiterposten dahinvegetierten, weil sie zu klug waren für das System DDR und nicht klug genug, die Klappe zu halten. Was viele wohlwollend für ein gesellschaftliches Experiment gehalten hatten, entpuppte sich als graues Land, das geistig, politisch und ökonomisch eine Katastrophe war.

Erst als wir das alles erfahren hatten und mit den Schicksalen von wirklichen Menschen konfrontiert worden waren, bekamen wir eine Idee von jenem Deutschland. Und erst dann verstanden wir auch, dass das massenhafte Aufbegehren in diesem Klima der Verunsicherung und Beschattung, Einschüchterung und Verfolgung tatsächlich eine Art Wunder war. Und dass wir mit unserer Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber dem anderen deutschen Staat mindestens naiv gewesen waren, wenn nicht gar menschenverachtende Zyniker.

Das hat sich in jener Zeit und bis heute entscheidend geändert. Die damals dabei sein durften, sind dankbar, dass sie während der Wendezeit mittendrin sein und Geschichte live erleben durften. Gerade die Monate zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung gehören zum Spannendsten, was ein Journalistenleben zu bieten hat.

Der wichtigste Gewinn? Demut gegenüber dem Glück, im Westen geboren zu sein. Und die Wertschätzung der Standards, die wir - jetzt gemeinsam mit allen Deutschen - hierzulande seit Jahrzehnten genießen: Freiheit, Wohlstand und ein System, das die Rechte der Menschen hochhält.

Was Freiheit im Kern bedeutet, weiß man erst, wenn man die Alternative kennt. Sie ist keine Selbstverständlichkeit.

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