China:Die zornigen Bürger von Wukan

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Wie Chinas Zentralregierung versucht, ein Dorf zu zähmen, in dem die Menschen auf ein Stück Unabhängigkeit hofften. Dass die Bewohner sich auf die Kommunistische Partei berufen, hilft ihnen nicht.

Von Kai Strittmatter, Peking

Wukan: Ein Dorf wie kein anderes war das. Ganz China spielt nach den Regeln der Kommunistischen Partei. Ganz China? Nein. Ein von unbeugsamen Bauern und Fischern bewohntes Dorf an der Südküste des Landes hörte nicht auf, den Oberen Widerstand zu leisten. Eigentlich ging es ihnen um etwas ganz Simples: Sie wollten ihr Ackerland wieder, das ihnen die Dorffunktionäre weggenommen hatten, um es zu verkaufen. Es ging also gegen Landraub, Korruption und Ungerechtigkeit, eine Geschichte wie sie in Tausenden anderen chinesischen Gemeinden der vergangenen Jahre ebenso spielte. Aber Wukan war anders: Die Betrogenen standen zusammen, ihr Protest hatte einen längeren Atem als anderswo. Und die Provinz Guangdong damals einen kompromissbereiten Gouverneur.

Eine Weile sah es also danach aus, als gelänge den Wukanern Einzigartiges: 2012, nach Monaten zivilen Widerstands, wurden sie die einzige Gemeinde im Land, der die Obrigkeit gestattete, ihre Führer selbst zu wählen in einer geheimen und direkten Wahl. Zum Parteisekretär wählten sie einen respektierten Mann aus ihrer Mitte: den heute 70-jährigen Lin Zuluan. Für die Dorfbewohner war das nur ein erster Schritt: Ihr Ackerland hatten sie da noch lange nicht wieder. Für die Welt aber war es ein erstaunliches Exempel. Wukan hatte mit einem Mal das Etikett "Demokratiedorf" weg. Auch wenn das stets ein allzu rosiges Narrativ war.

Die Obrigkeit marschiert ein. Den demokratisch gewählten Lin hat sie schon verhaftet

Jetzt aber ist der Traum von der Dorfdemokratie endgültig aus. Das Dorf ist besetzt von der Staatsgewalt, im Moment abgeriegelt von der Außenwelt. Die Obrigkeit marschierte am Dienstag, noch vor dem Morgengrauen, in die unbotmäßige Gemeinde ein. Am 18. Juni schon war Lin Zuluan verhaftet worden, der 2012 demokratisch gewählte Parteichef. Der offizielle Vorwurf gegen Lin: Bestechlichkeit. Die Festnahme erfolgte am Vorabend einer großen Rede, die Lin hatte halten wollen. In der Rede wollte er all die gebrochenen Versprechen der Regierung aufzählen, wollte den Frust der Dorfbewohner bündeln und zu neuer Aktion verwandeln. Von zehn Quadratkilometern gestohlenen Landes, sagte Lin nur Tage vor seiner Verhaftung dem Hongkonger TV-Sender Cable TV, habe das Dorf in fünf Jahren Verhandlungen und Kampf lediglich 1,3 Quadratkilometer zurückerhalten. Er beklagte "schmutzige Tricks und Druck" gegen sein Dorf und sagte: "Sie werden uns verfolgen, verhaften und gemein behandeln. Aber ich kämpfe auf Leben und Tod. Ich kann nicht anders."

"Viele dürfen nicht zurück ins Dorf. Lebensmittel kommen nicht herein. Hier ist Chaos."

Die Verhaftung Lins trieb die Dorfbewohner auf die Barrikaden. Jeden Tag demonstrierten sie seither zwei Mal. Stets mit einem Wald von chinesischen Nationalflaggen. Und stets riefen sie nicht nur "Gebt uns unser Land zurück", sondern auch "Lang lebe die Kommunistische Partei". Diesmal ohne Erfolg. Die Behörden nahmen kurzzeitig einen Enkel Lins fest - kurz darauf veröffentlichten sie ein Video, in dem Lin seine Schuld "gestand". Ja, er habe Bestechungsgelder angenommen. Letzte Woche wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Verurteilung fachte den Zorn der Wukaner erneut an, das Geständnis-Video halten die meisten für inszeniert. "Die Leute hier glauben, dass Lin unschuldig ist. Er ist nicht korrupt", sagte am Mittwoch ein Abiturient am Telefon der SZ. "Er führte einfach nur unseren Kampf an."

Auch wenn die am Dienstag und Mittwoch aus Wukan geschmuggelten verwackelten Smartphone-Videos noch im einen oder anderen Moment an das kleine gallische Dorf des Asterix erinnern mögen, mit den in Schildkrötenformation durch die Straßen kriechenden Trupps der bewaffneten Miliz, versteckt hinter ihren mannshohen Schildern, während Dorfbewohner in Strohhüten, kurzen Hosen und Plastikschlappen sie mit Steinen und Ziegeln bewerfen und einmal sogar in die Flucht schlagen - auf ein Happy End braucht hier diesmal keiner mehr zu hoffen.

Die Sicherheitskräfte hatten Listen der Anführer im Dorf, sie stürmten die Häuser, zogen die Bürger aus ihren Betten, am Dienstag vor vier Uhr morgens, 13 von ihnen nahmen sie in der ersten Welle fest. Danach kam es zu Straßenschlachten. Videos zeigen, wie die Polizei Gummigeschosse und Tränengaskanister auf die Demonstrierenden feuert. Fotos dokumentieren Verletzungen durch die Gummigeschosse. "Wie in einem Kriegsgebiet" seien sie sich vorgekommen, sagten Bewohner hernach.

Wukan, der 10 000-Einwohner-Flecken, ist mittlerweile besetzt. Die Ein-und Ausfallstraßen waren am Mittwoch gesperrt. "Viele Leute dürfen nicht zurück ins Dorf, Lebensmittel kommen nicht herein", sagte der Wukaner Abiturient. "Es ist Chaos hier. Ich war nicht in der Schule heute." Ausländischen Journalisten wurde schon der Aufenthalt in den benachbarten Städten Lufeng und Shanwei untersagt. Ein Wukaner erzählt von Polizeiwagen, die mit Megafonen durch die Straßen fahren: "Sie rufen dazu auf, 'ausländische Agenten' zu verraten, für 20 000 Yuan Belohnung". Fünf weitere Anführer der Proteste werden jetzt mit Fahndungsplakaten gesucht, hier ist die Belohnung 100 000 Yuan. "Wir wissen nicht, wem wir noch vertrauen können. Es wimmelt von Verrätern", sagte Herr Chen, ein lokaler Geschäftsmann, der SZ. Bewohner berichten von weiteren Razzien der Polizei. "Sie suchen all die Frauen, die die Nationalflaggen hielten bei den Protesten. Die Polizei hat sogar Schüler mitgenommen", erzählt ein Herr Zhang. Die SZ erreichte den amtierenden Parteisekretär von Wukan, Hong Jinzong, aber er war zu keiner Stellungnahme bereit.

Seit einer Steuerreform vor mehr als einem Jahrzehnt sind Landverkäufe für viele Gemeinden in China die größte Einnahmequelle. Gleichzeitig bereichern sich viele Gemeindefunktionäre an dem Land, das sie von ihren Bauern beschlagnahmen, um es für Urbanisierung oder Industrieprojekte weiterzuverkaufen. Von den schätzungsweise 180 000 Unruhen und gewaltsamen Protesten, die es 2010 in China gab (das letzte Jahr, für das solche Schätzungen existieren), geht wohl ein Großteil auf das Konto solcher Enteignungen, bei denen die Bauern von lokalen Kadern oft übervorteilt oder um ihre Entschädigung betrogen werden. "Was für eine Regierung ist das hier: so undurchsichtig, ungerecht, unehrlich, so schwarz", sagte Herr Zhang aus Wukan. "Wir haben nur noch die Hoffnung, dass die Zentralregierung in Peking uns hilft."

Die arbeitet derweil vor allem daran, dass der Rest des Landes von den Vorfällen in Wukan nichts mitbekommt: Videos und Fotos aus der Stadt werden ebenso schnell gelöscht, wie sie ins Netz gestellt werden, die Polizei der zuständigen Stadt Lufeng sprach von "gefälschtem Bildmaterial" und kündigte die Verfolgung der Verantwortlichen an. Maya Wang, die Chinaexpertin der Organisation Human Rights Watch verwies auf den Kontrast zwischen dem kompromissbereiten Vorgehen der Behörden vor fünf Jahren und dem harten Zugriff heute, da Xi Jinping Parteichef ist. Damals sei Wukan "mit Samthandschuhen angefasst" worden, sagte sie. "Heute langen sie mit dem Hammer hin."

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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