China:Die Rückkehr der Wandzeitung

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Am 4. Mai 1919 gingen Studenten der Peking-Universität im Protest gegen den Versailler-Vertrag und die Feudalgesellschaft auf die Straße. Sie forderten Freiheit für die Wissenschaft und demokratische Ideale. Hundert Jahre später erinnern die Proteste einer neuen Generation an diesen Moment. (Foto: imago/Xinhua)

An der Peking-Universität bricht sich ein erstaunlicher Protest Bahn: Studenten mobilisieren gegen die weit verbreitete sexuelle Belästigung und können sich dabei auf große historische Vorbilder berufen.

Von Kai Strittmatter, Peking

Organisierter Protest, offene Briefe, Studenten, die von Lehrern und Beamten Rechenschaft verlangen - an Chinas Universitäten geschieht gerade Bemerkenswertes. Allen voran an der Peking-Universität, das ist die beste und berühmteste Hochschule des Landes. Hier hängten in der Nacht von Montag auf Dienstag anonyme Aktivisten sogar handgeschriebene Wandzeitungen auf - so etwas hatte es zuletzt im Jahr 1989 gegeben, als die Demokratiebewegung vom Platz des Himmlischen Friedens am Ende mit einem Massaker ausgelöscht wurde. Die Studenten sind zornig. Sie kämpfen gegen sexuelle Belästigung, sie haben Chinas ganz eigene Version der weltweiten "Me Too"-Bewegung geschaffen, und sie fühlen sich von den Behörden ignoriert und schikaniert.

Chinas Zensoren hatten am Dienstag Großkampftag. In den 24 Stunden zuvor war es zu einer Eskalation gekommen, die für viele Nutzer in Chinas soziale Medien das einzige Thema war: Eine Studentin, die von den Universitätsbehörden Transparenz gefordert hatte in einem lange zurückliegenden Vergewaltigungsfall, war de facto unter Hausarrest gestellt worden.

"Ich habe meine Freiheit verloren", schrieb Yue Xin im Messagingdienst Wechat, wo sie einen langen Brief über das rabiate Vorgehen der Universität veröffentlichte. Der Brief fachte den Ärger an, auch wenn die Zensoren ihn wieder und wieder löschten. Auch von der Wandzeitung auf dem Campus der Peking-Universität kursierten im Netz Fotos. Sie war von Unterstützern Yue Xins geschrieben worden. "Wir bewundern Yue Xins Mut und ihr Rückgrat", stand da. "Und wir fragen die Verwaltung der Peking-Universität: Wovor habt ihr Angst?" Am Abend des Dienstags veröffentlichte das Parteiblatt Volkszeitung gar noch einen beschwichtigenden Kommentar zu den Vorfällen ("Wie man der 'Stimme der Jugend' zuhören sollte"), ein Zeichen der Nervosität der Partei.

Die Studentin Yue Xin hatte gemeinsam mit Kommilitonen vor ein paar Wochen von der Universitätsverwaltung Auskunft verlangt über einen 20 Jahre zurückliegenden Fall einer möglichen Vergewaltigung. Unter Verdacht steht ein ehemaliger Professor der Universität, dessen Studentin Gao Yan 1998 sich das Leben nahm. Der Fall war damals untersucht worden, ohne allerdings größere Konsequenzen für den Professor zu haben. Chinas Zensur- und Sicherheitsapparat hat von Anfang an versucht, ein Überschwappen der "Me Too"-Bewegung nach China zu unterbinden. Der Selbstmord von Gao Yan vor 20 Jahren allerdings wurde in den letzten Wochen zu einem Kristallisationspunkt für Feministinnen landesweit.

Auch die Verwaltung der Peking-Universität hatte in einer offiziellen Erklärung Besserung bei Belästigungsanzeigen gelobt. Einer Reihe von Studenten, darunter Yue Xin, war das allerdings nicht genug, sie verlangten am 9. April Einsicht in die Dokumente des 20 Jahre alten Falls. In ihrem offenen Brief beschreibt Yue Xin, wie die Verwaltung ihr daraufhin drohte, sie gefährde ihren Abschluss. Sie erzählt, wie am Montag kurz nach Mitternacht ihre Tutorin ihr Zimmer im Studentenwohnheim stürmte, im Schlepptau ihre völlig verängstigte Mutter, die sie mit nach Hause nehmen sollte. Vorher aber verlangte die Tutorin von ihr, sie solle auf Computer und Handy alles löschen, was mit dem Fall zu tun habe. Die Universität hatte offensichtlich auch die Mutter eingeschüchtert. "Mir brach das Herz zu sehen, wie sie heulte, wie sie sich selbst ohrfeigte, wie sie vor mir kniete und mich anflehte und sogar mit Selbstmord drohte", schreibt Yue Xin.

Einer zwei Jahre alten Studie der staatlichen Familienplanungskommission zufolge hat in China ein Drittel aller Studenten schon einmal sexuelle Belästigung erlebt. Der Zorn der noch nicht gelöschten Internetkommentare richtet sich gegen einen Apparat, der die Belästiger schützt und diejenigen schikaniert, die Aufklärung verlangen. Einige Nutzer boten Yue Xin Unterstützung, gar einen Arbeitsplatz an. "Es gibt Dinge, die müssen getan werden, und es gibt Worte, die müssen gesprochen werden", schrieb Huang Heqing, selbst Absolvent der Peking-Universität in einem Kommentar. "Das ist der Geist der Peking-Universität." Andere fragen: "Ist die Peking-Universität nicht längst tot? Sind nicht alle Universitäten längst Parteischulen?" Tatsächlich haben die Gleichschaltung und Reideologisierung der Universitäten unter Parteichef Xi Jinping noch einmal zugenommen.

In den letzten hundert Jahren waren es in China meist die Studenten, die große gesellschaftliche Bewegungen vorangetrieben haben. Und fast immer waren es die Studenten der Peking-Universität, die vorneweg liefen - zuallererst an jenem legendären 4. Mai 1919, an dem sie sich zum Protest gegen den Vertrag von Versailles versammelten. Die Bewegung des 4. Mai wurde zu einer kulturellen Macht und zu einem Gründungsmoment des modernen China. Nächste Woche feiert die Peking-Universität ihren 120. Geburtstag, den Jubiläumsakt hat sie bewusst auf den 4. Mai gelegt.

Auch die Wandzeitung von dieser Woche beruft sich auf die Studenten des 4. Mai: "Das ist der Geist, auf dem die Peking-Universität gebaut ist", schrieben die Autoren. Im Moment aber gebe es einen "Kampf" um diesen Geist: "Es ist ein Kampf zwischen zwei Peking-Universitäten - die Werte und Ideale der einen sind uns lieb und teuer, die andere aber ist eine korrupte Institution, für die ihr steht."

In den Wechat-Gruppen der Universität war schon in den letzten Wochen ein Dokument kursiert, das die Studenten warnte, die Partei habe den Kampf gegen sexuelle Belästigung als "politische Bewegung" identifiziert, einige Studenten würden gar "mit ausländischen Kräften kollaborieren". Gerade im Jubiläumsjahr der Universität sei das inakzeptabel. "Also bitte", so die Mahnung: "sorgt für eure Sicherheit."

© SZ vom 25.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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