Ein Charakteristikum der politischen Karriere Angela Merkels ist stets gewesen, dass sie unterschätzt wurde. Sie war die Alibi-Ministerin aus dem Osten, "Kohls Mädchen", eine Notlösung als CDU-Vorsitzende, von Edmund Stoiber als Kandidatin ausgeschaltet - und eines Tages plötzlich Kanzlerin.
Selbst dann wurde Merkel noch begleitet von düsteren Vorhersagen, sie werde die erste Krise nicht überstehen. Als sie die ersten Krisen doch überstand, hatte sie das den SPD-Ministern zu verdanken. Sagten die SPD-Minister. Und so weiter und so fort. Merkel hat die Überheblichkeit der anderen clever in einen Vorteil zu ihren Gunsten umgemünzt - wo die Erwartungen besonders niedrig sind, ist der überraschende Erfolg am nächsten.
Mit großem Aufwand zum Austausch verdonnert
Nach zehn Jahren Kanzlerschaft stößt diese Masche an ihre Grenzen. Das Symbol dafür ist der von Merkel initiierte Bürgerdialog. Mit großem Aufwand und wissenschaftlicher Begleitung hat die Kanzlerin sich und ihre Regierung zum Austausch mit den Menschen verdonnert. In Foren soll darüber gesprochen werden, was die Leute unter Lebensqualität verstehen. Wer wollte da dagegen sein in Zeiten von Parteienfrust, Politikverdruss und Pegida?
"Ich nehme erst mal mit, dass Sie sich toll vorbereitet haben": Beim Bürgerdialog trifft Kanzlerin Merkel auf zufällig ausgewählte Betroffene - und nicht immer einen Nerv.
Doch der Auftakt der Kanzlerin mit 60 Bürgerinnen und Bürgern offenbarte in aller Peinlichkeit, dass es sich nur um eine Show handelt. Das lag nicht an den Bürgern, deren Beiträge ernsthaft waren, konkret und gesättigt von persönlicher Erfahrung. Es lag an der Kanzlerin, die so tat, als höre sie lauter interessante Neuigkeiten - Frau Merkel stellt sich dumm.
Freilich werden keine geordnete Sammlung von Themen und keine akademische Aufarbeitung der Einsichten verhindern, dass unterm Strich des Bürgerdialogs ein simples Ergebnis stehen wird: Das Defizit der Regierung besteht nicht in der Kenntnis der Probleme, sondern in ihrer Lösung.
Simulierte Bürgernähe
Nun wäre das alles harmlos, wenn der Bürgerdialog nicht den Verdacht verstärkte, dass die Kanzlerin sich innenpolitisch leer regiert hat. Schon die meisten Vorhaben dieser, ihrer dritten, Regierung stammten vom Koalitionspartner. Jetzt die Ideen der Bürger abzufragen wirkt wie ein Spiel auf Zeit: Solange sich die Menschen mit ihren Problemen beschäftigen, muss es ja die Politik nicht tun.
So kaschiert Merkel entweder, dass sie nicht mehr den Ehrgeiz, die Kraft oder die Lust hat, eigene Ideen durchzusetzen - oder dass sie keine mehr hat. Merkel bemäntelt diese Schwäche mit simulierter Bürgernähe und versucht so, aus der Not eine Tugend zu machen.
Dabei kennt kaum jemand Deutschlands Probleme besser als Merkel. Ihre Leidenschaft für Details ist legendär. Sie wird mit Umfragen versorgt, die ihr deutsche Befindlichkeiten schildern. Sie hat eine Fraktion mit mehr als 300 Abgeordneten. Und die von der SPD könnte sie auch noch fragen.
Geschickt wie sie ist, hat die Kanzlerin die Sozialdemokraten zum Bürgerdialog schön mit verhaftet. Sie bilden die Statisterie in Merkels wahlkampfartiger Selbstinszenierung als die Frau mit dem offenen Ohr - und legitimieren so ihre sehr spezielle Form einer Politik der ruhigen Hand.