Buch zur Occupy-Bewegung:Ansichten eines aufgeschlossenen Anarchisten

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In seinem neuen Buch "Inside Occupy" berichtet David Graeber, Vordenker der Occupy-Bewegung, vom brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Proteste, prangert Medien und Politiker an und hofft, dass Occupy klassenübergreifend wirksam sein wird. Auch wenn die politischen Vorstellungen des Autors oft fantastisch sind - amüsant ist die Lektüre seines Buches allemal.

Franziska Augstein

Es gibt ein neues Orakel. Sein Name ist David Graeber. Was ist faul am Kapitalismus und der Marktwirtschaft? Frag David Graeber. Wie sollte die Gesellschaft aussehen? Frag David Graeber. Alle machen es, auch die SZ. Sein dickes Buch "Schulden" ist ein Potpourri aus ethnologischen Beobachtungen und ökonomisch-historischen Konjekturen von der Steinzeit bis heute, die sich im Besonderen um die Entwicklung der Geldwirtschaft und der Märkte drehen.

Gegen die Nato: Auch beim Gipfel in Chicago demonstriert die Occupy-Bewegung. (Foto: AFP)

Das Buch ist ein mutiger Wurf, mutig vor allem deshalb, weil es argumentativ nicht überzeugt. Letzteres scheint die deutschen Rezensenten freilich nicht zu stören. So ist das halt mit Orakeln: Sie müssen ihre eigenen Hypothesen nicht falsifizieren. Sie werden erkoren und dann geachtet, eben weil ihre Rede unergründlich ist.

Glücklicherweise kann David Graeber aber auch anders. "Inside Occupy" heißt das zweite Buch von ihm, das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Im Vergleich zu "Schulden" ist es ein kleines Buch - klein, aber oho! Während man sich bei der Lektüre von "Schulden" des Eindrucks nicht erwehren kann, dass hier allzu oft der Wunsch Vater des Gedankens beziehungsweise der Theorie geworden ist, handelt "inside Occupy" von handfesten Dingen: Von dem, was der 51 Jahre alte Graeber als langjähriger Globalisierungskritiker, Demonstrant und "aufgeschlossener Anarchist", wie er sich nennt, erlebt hat.

Was gewegt die Menschen "draußen im Lande"?

Sein Buch ist wichtig: Für Politiker, damit sie wissen, was "die Menschen draußen im Lande", wie Helmut Kohl sie nannte, bewegt. Kohl unterschied, ohne es zu sagen, zwischen "draußen" und "drinnen": Draußen saß das Stimmvieh, drinnen wurde Politik gemacht. Genau das ist es, wogegen Graeber kämpft. Deshalb ist "inside Occupy" für jeden interessant, der noch glaubt, dass die Demokratie die beste aller schlechten Regierungsformen ist. Und schließlich gibt das Buch unschätzbar gute Ratschläge für alle, die wissen wollen, wie man große Treffen mit Hunderten Diskutanten fair und effizient organisiert.

Graeber stammt aus den Vereinigten Staaten. Mittlerweile hat sich auch in Europa herumgesprochen, dass es mit der Demokratie in den USA hapert. Was Politologen und andere feststellen, erzählt Graeber aus eigener Erfahrung. Es beginnt damit, dass die amerikanische Polizei unmäßig brutal vorgeht, wenn sie gegen friedliche Demonstranten eingesetzt wird. Graeber erwähnt auch, ihm sei erzählt worden, dass einem Polizisten bei so einem Prügel-Einsatz durch sein Visier hindurch anzusehen gewesen sei, wie ihm die Tränen übers Gesicht liefen.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2000 kam der Verdacht auf, die Wahlen in Florida seien zugunsten der Bush-Familie (Jeb in Florida, George W. in Washington) manipuliert worden. Hat es da eine saubere Untersuchung gegeben? Nein. Die Medien, so Graeber, behaupteten sogar fälschlich, die Amerikaner hätten daran kein Interesse. Eine Meinungsumfrage, die er zitiert, ergab allerdings das genaue Gegenteil. Nicht ganz ohne Grund betrachtet Graeber auch jene Medien, die in den USA "liberal" genannt werden, als Handlanger der Oligarchie. Über die Besetzung des Zuccotti-Parks im Sommer 2011, schreibt er, habe die New York Times erst nach fünf Tagen berichtet.

Graebers Hauptpunkt ist dieser: Amerikanische Politiker seien käuflich geworden. Ihr Wahlkampf koste so viel, dass sie nicht mehr für die Bürger Politik machen können, sondern nur noch für reiche Sponsoren, die Hampelmänner brauchen, die ihre wirtschaftlichen Interessen politisch durchsetzen. So kam es zu dem Slogan, den die Besetzer des Zuccotti-Parks unweit der Wall Street im Sommer 2011 gewählt haben: "Wir sind die 99 %". Eben jene 99 Prozent der Bürger, die keinen Anteil am Reichtum der USA haben und keine Mitsprache: "Wir fühlen uns nicht vertreten", hieß es in dem Aufruf zu dem ersten Treffen am 9. August 2011.

Das Camp im Zuccotti-Park hat die Occupy-Bewegung weltberühmt gemacht. Auf einmal fanden viele gleichgesinnte Protestbewegungen zusammen. Graeber war verblüfft, als er im Sommer 2011 feststellte, dass jeder Twitter-Eintrag von ihm binnen zehn Minuten ins Spanische übersetzt war: In Barcelona freuten sich die Demonstranten über die ideelle Unterstützung aus Übersee. Auf der Internet-Seite, die "Wall Street Occupy" einrichtete, haben zahlreiche Menschen ihr Schicksal erzählt.

Bewegende Berichte von verschuldeten Müttern

Einige dieser Einträge sind in Graebers Buch abgedruckt: Sie sind bewegend. Das sind Botschaften von Frauen, die alles hatten richtig machen wollen: Sie waren nicht drogensüchtig oder ausgeflippt, einige hatten studiert, sich verschuldet, um die Studiengebühren zu zahlen, dann fanden sie keine Arbeit, und wenn dann noch die Mutter oder das Kind krank wurde, war das Desaster komplett. Präsident Obama hat sich für die Reform des staatlichen Gesundheitswesens eingesetzt. Aus deutscher Sicht kann man sagen: Möglicherweise (und sofern der Supreme Court das anhängige Verfahren in Obamas Sinn entscheidet) ist es ihm gelungen, das Allerschlimmste zu beheben; jetzt ist es nur noch schlimm.

Deutsche Arbeitnehmer halten es für normal, dass von ihrem Gehalt Geld für die Krankenkasse abgezogen wird. In Amerika - "the land of the free" - sieht das anders aus. Graebers Vorfahren sind osteuropäische Juden mit deutscher Verwandtschaft, sein Nachname zeigt es. Wäre Graeber im Nachkriegsdeutschland herangewachsen: Er wäre vermutlich nicht zu einem Mastermind der Occupy-Bewegung geworden.

David Graeber entstammt nun aber einer gebildeten, mittelständischen US-amerikanischen Familie. Er denkt anarchistisch-links. Und er kennt die jüngere Geschichte linker Bewegungen im Westen, die stets vergeblich sich bemühten, die Arbeiterschaft zu mobilisieren. Es spricht für ihn, dass er ehrlich beschreibt, wer bei "Wall Street Occupy" anfangs mitmachte: Es war "ein Bündnis zwischen Kindern von Geistesarbeitern und talentierten Kindern der unteren Schichten, die sich eine bürgerliche Bildung erarbeitet haben". Dann aber kamen andere hinzu. Nicht die liberale Presse, sondern die New Yorker Gewerkschaftler. Graeber selbst hält das für ganz ungewöhnlich. Er hofft, dass die Occupy-Bewegung auf die Dauer klassenübergreifend wirksam sein könne.

Er hat phantastische politische Vorstellungen, wie zum Beispiel die, dass Führungsämter per Lotterie vergeben werden könnten. Und er schreibt lapidar: "Gäbe es zum Beispiel in einer wirklich freien Gesellschaft einen Platz für Märkte? Woher sollen wir das wissen?" Wie "in einer wirklich freien Gesellschaft" ein Getreidebauer, ohne auf den Markt zu gehen, an Kartoffeln oder Tomaten herankommen soll, erklärt Graeber nicht. Auf den Betrieb der Finanzmärkte geht er klugerweise gar nicht erst näher ein. Er will ja auch gar kein Orakel sein. Als Kritiker der bestehenden Umstände hingegen ist David Graeber ein vertrauenswürdiger, erfahrener Spezialist. Außerdem ist die Lektüre seine Buches amüsant.

DAVID GRAEBER: Inside Occupy. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2012. 200 Seiten, 14,99 Euro.

© SZ vom 21.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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