Boris Pistorius:Weltgipfel statt Abwimmel-Konferenzen

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Das Flüchtlingsproblem muss viel größer angepackt werden als bisher, findet Niedersachsens Innenminister im Gespräch.

Interview von Heribert Prantl

SZ: Die EU-Außenminister haben soeben Militärmaßnahmen gegen Schlepper beschlossen, die in ihren Booten Flüchtlinge übers Mittelmeer befördern. Ist das kluge Flüchtlingspolitik?

Boris Pistorius: Nein. Mit solchen militärischen Mitteln kann man vielleicht kurzzeitig dafür sorgen, dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgeht. Eine Hilfe für die Flüchtlinge ist das natürlich nicht; das ist ein neues Element in der bisher praktizierten Abschreckungspolitik, aber nichts Zukunftsweisendes.

Wollen Sie die Schlepper nicht abschrecken? Wollen Sie deren Geschäft nicht bekämpfen?

Der Druck der Verhältnisse in den Fluchtländern ist so groß, dass die Menschen fliehen, koste es, was es wolle. Die Situation spitzt sich zu: Urlauber auf Kos erleben, wie am Strand Flüchtlinge anlanden. Militäraktionen dürfen da keine Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Aktionen werden. Militärische Aktionen haben noch nie etwas gelöst.

Der Kardinal von Köln hat die Kirchenglocken für die toten Flüchtlinge läuten lassen. Es sollte ein Weckruf sein, "der die Politik aufrüttelt".

Mich treibt das Flüchtlingsproblem seit Langem um. Wer fliehen muss, der muss auch fliehen können. Als früherer Oberbürgermeister von Osnabrück, der Stadt des Friedensschlusses nach dem Dreißigjährigen Krieg, zitierte ich die Worte des gebürtigen Osnabrückers Erich Maria Remarque: "Mein Thema ist der Mensch dieses Jahrhunderts - die Frage der Humanität." Remarque hat das aufs 20. Jahrhundert bezogen. Wir müssen es aufs 21. Jahrhundert beziehen.

Französische Polizisten gegen Flüchtlinge. So wie hier geht es derzeit an vielen Grenzen Europas zu - die Regierungen setzen auf Abwehr. (Foto: Philippe Huguen/AFP)

Was heißt das? Mit Appellen kommt man nicht weiter; die gibt es zur Genüge.

Ich bin kein Kardinal, kein Prediger, sondern politischer Praktiker. Ich habe mit den operativen Schwierigkeiten zu tun, die es gibt, wenn die Flüchtlingszahlen jeden Tag steigen - mit den finanziellen Auswirkungen, mit den Problemen der Unterbringung. Das tu ich und das tun auch tausend andere Politiker und Beamte in Verantwortung in Kommunen und Ländern. Aber darüber hinaus müssen muss man das ganze Problem einmal viel größer anpacken.

Packen Sie.

Wir brauchen nicht nur den deutschen Flüchtlingsgipfel, in dem wir über die Fragen der Finanzen und der administrativen Bewältigung verhandeln. Wir brauchen einen europäischen, vielleicht gar einen Weltflüchtlingsgipfel. So etwas gab schon einmal, 1938 in Evian. So einen internationalen Gipfel brauchen wir wieder.

Evian? Im französischen Evian haben 1938 die Staaten der Welt auf Einladung des US-Präsidenten Roosevelt über eine Aufnahme der im Nazi-Deutschland verfolgten Juden verhandelt. Das Ergebnis war null, ein Desaster. Keiner wollte sie aufnehmen, vor allem deswegen, weil die Nazis ihnen vorher das Vermögen abnahmen. Arme jüdische Flüchtlinge wollte keiner haben. Evian ist ein abschreckendes Beispiel für Verweigerung von Hilfe.

Diese Konferenz ist grandios gescheitert, das stimmt. Aber daraus gilt es zu lernen.

Vergleichen Sie die Situation der von den Nazis verfolgten jüdischen Flüchtlinge der Jahre 1933 ff mit der Situation der Flüchtlinge heute?

Nein. Nichts ist gefährlicher als ein falsch gesetzter Vergleich. Aber der politische Abwehr- und Abwimmelmechanismus der Staaten ist heute der gleiche. Da wird heute wieder geredet wie damals, vom sozialen Frieden, der durch die Aufnahme der Flüchtlinge bedroht sei; da wird wieder geredet von der innenpolitischen Balance, die durch die Flüchtlinge gefährdet werde; da wird vom Missbrauch des Asylrechts geredet. Genau so war es damals. Nach und an diesem Gerede sind damals so viele Menschen gestorben. Die Konferenz von Evian hätte vielen Menschen das Leben retten können. Das ist siebzig Jahre her. Daraus gilt es zu lernen. Der Versuch, den europäischen Kontinent abzuschotten bedeutet: Wir haben nichts gelernt.

Boris Pistorius, 55, SPD, ist Rechtsanwalt und seit 2013 Minister für Inneres und Sport. Zuvor war er sieben Jahre lang Oberbürgermeister in Osnabrück. (Foto: Holger Hollemann/dpa)

Was soll denn verhandelt werden auf einer solchen Konferenz? Was soll an deren Ende stehen?

Ein Bekenntnis der Staatengemeinschaft zur gemeinsamen Verantwortung.

Bekenntnisse gibt es schon viele. Das heißt konkret?

Erst einmal Klarheit darüber, dass die Menschen in den Armenhäusern der Welt, die drangsaliert und bekriegt werden, auf Dauer jedes Hindernis überwinden, das man ihnen in den Weg stellt. Die Flüchtlingszahl weltweit geht jetzt auf 60 Millionen zu. Da muss man sich doch grundsätzlichste Gedanken machen. Es ist ja nicht meine Aufgabe als Landesinnenminister die Weltprobleme zu lösen - aber ich frage mich schon: Wie wird einmal die historische Betrachtung unserer Epoche sein?

Beschreiben Sie die Tagesordnung einer solchen Flüchtlingskonferenz.

Es gibt zwei Themenstränge. Erstens: Wie gehen wir mit den Flüchtlingsströmen um, wie kann man sie lenken, wer nimmt wie viele Flüchtlinge auf, wie unterstützen wir Regionen, in denen die Flüchtlinge ankommen? Zweitens: Fluchtursachenbekämpfung. Da geht es vor allem um Wirtschaft, das ist kein einfacher Marshallplan . . .

. . . das war das gewaltige Wirtschaftswiederaufbauprogramm der USA in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wir brauchen heute einen Marshallplan hoch zehn für die Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen.

© SZ vom 23.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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