Belgien:Sinnvoll und menschlich

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Belgiens Asyl-Staatssekretär Theo Francken warnt vor einem Präzedenzfall. "Wenn wir einlenken, kann das Beispiel Schule machen", sagt der Politiker der separatistischen N-VA. (Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Ein belgisches Gericht hat mit einem Urteil grundsätzliche Fragen zur europäischen Asylpolitik aufgeworfen. Nun streitet das Land über sogenannte humanitäre Kurzzeit-Visa für in Not geratene Syrer.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Für syrische Flüchtlinge, die Schutz suchen, gibt es nur einen Weg nach Europa: Sie müssen sich über Griechenland oder Italien nach Norden durchschlagen. Sinnvoller und menschlicher wäre es nach Ansicht von Flüchtlingshelfern, zumindest den unmittelbar Gefährdeten ein "humanitäres Visum" zu geben, mit dem sie ins Flugzeug steigen und legal in die EU reisen könnten. Auch das Europäische Parlament fordert das seit Längerem. Die Politik weigert sich. In Belgien haben sich nun Richter über diese Weigerung hinweggesetzt und damit grundsätzliche Fragen aufgeworfen: zur europäischen Asylpolitik und zur Gewaltenteilung.

Der Fall betrifft eine vierköpfige Familie aus Aleppo. Ihr Haus ist zerstört, sie wohnt bei einem geflüchteten Verwandten, ebenfalls in der Bombenzone. Am Wochenende gingen laut einer Anwältin in direkter Nähe Einschläge nieder. Niemand sei verletzt worden, aber die Familie sei am Ende ihrer Kräfte. Sie müsse gerettet werden. Eine belgische Familie ist bereit, sie aufzunehmen und alle Kosten zu tragen. Der belgische Rat für Ausländerstreitsachen entschied im Oktober, der Bitte der Syrer um ein "humanitäres Kurzzeit-Visum", das sonst nur in Ausnahmefällen bei engen Familienbanden gewährt wird, sei nachzukommen. Für jeden Tag, den die Familie das Visum nicht erhalte, müsse der Staat 4000 Euro zahlen. Asyl-Staatssekretär Theo Francken legte Berufung ein. Ihm geht es ums Prinzip, er warnt vor einem Präzedenzfall für ganz Europa. "Wenn wir einlenken, dann kann das Beispiel Schule machen, dann beantragen am Ende 60 Millionen Syrer in einem belgischen Konsulat ein humanitäres Visum", sagt der Politiker der konservativen, flämisch-nationalistischen N-VA. So könnte der Staat die Kontrolle über seine Grenzen verlieren.

Ein Berufungsgericht gab der Familie recht, auch beim Zwangsgeld bleibt es, doch der Staatssekretär mag sich nicht beugen, wodurch die Affäre nun die belgische Innenpolitik aufwühlt. Franckens Partei lancierte am Wochenende eine Kampagne in den sozialen Medien, die sich direkt gegen die Justiz richtet und die "weltfremden" Richtern kritisiert. Die Opposition empört sich und fordert die Regierung auf, den Rechtsstaat zu achten. Der liberale Premier Charles Michel distanzierte sich zwar von der N-VA-Kampagne, stellte sich in der Sache aber klar hinter seinen Staatssekretär. Den Vorschlag der Gegenseite, der Familie lediglich einen Passierschein nach Belgien auszustellen, lehnte die Regierung ab; sie schlug stattdessen vor, die Syrer könnten doch in Libanon um Asyl bitten. Die Regierung in Beirut sei einverstanden. Das wiederum lehnen die Anwälte ab, unterstützt von Flüchtlingshelfern, die auf die unsichere Lage in Libanon hinweisen.

Eine Lösung ist nicht in Sicht. Der innerbelgische Rechtsweg ist zwar noch nicht ausgeschöpft, entschieden wird der Streit aber vermutlich erst in ein paar Monaten vom Europäischen Gerichtshof, der zufällig mit einem ähnlichen Fall befasst ist. Grundlage wird Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention sein, auf den sich auch der Rat für Flüchtlingsstreitigkeiten beruft: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden." Das steht wortgleich in Artikel 4 der Europäischen Grundrechtecharta. Bisher wird der Artikel aber nur in den EU-Staaten selbst angewandt. Eine Folge: Niemand wird in ein Land zurückgeschickt, in dem er Angst um Leib und Leben haben muss. Doch was ist, wenn Flüchtlinge in einer belgischen Botschaft um Asyl bitten würden? Gilt Artikel 4 dann auch, sozusagen extraterritorial? Die Gesetze seien in dieser Hinsicht unklar, sagt Dirk Vanheule, Professor für Migrationsrecht an der Uni Antwerpen.

Hinterfragt wird mit diesem und anderen Fällen jedenfalls jene "Scheinheiligkeit" der EU-Flüchtlingspolitik, die Helfer seit Jahren monieren: Das Asylrecht und die hohen Schutzstandards, auf die Europa stolz sei, bestünden nur in der Theorie. In der Praxis zwinge die EU Schutzsuchende, sich auf illegale und lebensgefährliche Wege zu begeben.

© SZ vom 14.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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