Balkan:Gericht der guten Geister

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Als es gegründet wurde, sagten die Kritiker: Das ist ein Alibi, sonst nichts. Doch das Haager Jugoslawien-Tribunal hat gezeigt, dass auch Staatsverbrechen gesühnt werden können - und müssen.

Von Stefan Ulrich

Wie Goethes Zauberlehrling erging es dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, als er 1993 das Internationale Jugoslawien-Tribunal schuf: Die Geister, die er rief, wurde er nicht mehr los. Nur dass es in diesem Fall gute Geister sind, die sich für Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und das Prinzip einsetzen, dass sich auch die Mächtigsten für ihre Verbrechen verantworten müssen.

Wenn das Haager Jugoslawien-Gericht am Sonntag nach fast 25 Jahren seine Arbeit beendet, so haben seine Geister aus aller Welt - die Richter und Staatsanwälte, Übersetzer, Kriminalisten, Wachleute, Zeugenschützer, Historiker oder Psychologen - erstaunlich viel von ihren Zielen erreicht. Hohen und höchsten Politikern und Militärführern aus der Zeit der Jugoslawienkriege in den Neunzigerjahren wurde vor den Augen der Welt der Prozess gemacht wegen Untaten, die so bestialisch und gefährlich sind, dass sie die ganze Welt etwas angehen: Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Von den 161 Angeklagten ist heute kein einziger mehr flüchtig. 84 wurden verurteilt, darunter Symbolfiguren der Kriegsgräuel wie die bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić und Ratko Mladić. All diese Prozesse wurden mit größter Sorgfalt und unter peinlichster Berücksichtigung der Angeklagtenrechte geführt. Dies - und die oft übermäßig aufgeblähten Anklageschriften - führten allerdings dazu, dass sich manche Verfahren sehr in die Länge zogen. Der frühere Serbenpräsident Slobodan Milošević starb so in der Zelle, bevor sein Urteil gefällt werden konnte.

Kritisiert werden kann das Gericht, weil es Verdachtsmomente gegen Nato-Attacken während der Jugoslawien-Kriege eher lustlos anprüfte. Unberechtigt ist dagegen der Vorwurf, das Tribunal habe antiserbisch agiert, weil es in der Mehrzahl Serben verurteilte. Die serbische Armee und deren Hilfstruppen hatten im zerfallenden Jugoslawien die meisten Machtmittel und damit Möglichkeiten, Verbrechen zu begehen. Leichtfertig oder willkürlich ist in Den Haag jedenfalls keiner verurteilt worden.

In einem Punkt ist das Jugoslawien-Gericht allerdings vorerst gescheitert: Es konnte seinen Auftrag, zur Aussöhnung auf dem Balkan beizutragen, nicht erfüllen. Nationalistischer Hass vergiftet weiter die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Nationalistische Politiker feiern Wahlerfolge. Manche Kriegsverbrecher werden in ihrer Heimat als Helden gefeiert.

Das Haager Tribunal wurde vom Papiertiger zum Prototyp

Dennoch ist das Tribunal ein Erfolg. Es hat akribisch die historische Wahrheit über die Jugoslawienkriege ermittelt, bei denen Ende des 20. Jahrhunderts in Europa Hunderttausende Menschen getötet, verwundet und vertrieben wurden. Falls es irgendwann doch zur Versöhnung kommt, so wird das auf Basis dieser Wahrheitssuche geschehen. Den Opfern hat das Tribunal dabei die Gelegenheit gegeben, ihr Leid zu bezeugen und den Glauben an die Gerechtigkeit zu bewahren. Das Gericht hat das Völkerstrafrecht weiterentwickelt und dem allgemeinen Weltstrafgericht als Vorbild gedient. Und es hat die Einsicht gefestigt, dass sich Staatsverbrecher nicht hinter staatlicher Souveränität verstecken dürfen. Auch ein Präsident ist nicht mehr sakrosankt. Dieser Geist wird weiterleben, selbst wenn die Weltstrafjustiz immer mal wieder Rückschläge erleiden muss.

Das alles ist mehr, als der Sicherheitsrat einst erwartet hat. Er hatte das Haager Tribunal eher als Alibi geschaffen, um zu demonstrieren, man unternehme etwas gegen die Balkangräuel. Viele glaubten, das Gericht werde nur ein Papiertiger. Stattdessen wurde es zum Prototyp.

Friedrich Schiller schrieb in seinem Gedicht "Resignation": "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." Das Jugoslawien-Tribunal beweist dagegen, dass bereits die Gegenwart Gerechtigkeit schaffen kann.

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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