Außenpolitik:Missbrauch der Moral

Menschenrechte, Demokratie und Freiheit kaschieren simple Interessenpolitik. Besser wäre Mäßigung - und das Handwerkszeug guter Diplomatie.

Stefan Kornelius

Was war die Welt doch überschaubar, als sich die Vereinigten Staaten in ihrem Menschenrechtsbericht Deutschland vorknöpften und die Behandlung der Scientology-Sekte als demokratie- und religionsfeindlichen Frevel rügten.

Da wurden Verbalnoten ausgetauscht, Botschafter versuchten vor der Veröffentlichung des Berichts Einfluss zu nehmen - es half nichts. Scientology durfte sich über einen Moment im Rampenlicht freuen und wurde anschließend dem segensreichen Wirken einiger Hollywood-Größen überlassen.

In dieser Woche veröffentlichte das Außenministerium in Washington wieder einen Menschenrechtsbericht. 196 Staaten - viel mehr gibt es nicht auf der Welt - konnten nachschlagen, wie sie es in den Augen der Vereinigten Staaten denn so halten mit der Demokratie, der Religionsfreiheit, den Menschenrechten und den inneren Freiheiten.

Es fehlten in der Liste lediglich die USA selbst, denn der Kongress als Auftraggeber der Arbeit will ja über die Welt Bescheid wissen, nicht über die Zustände im eigenen Land. Außerdem rechtfertigten sich die Verfasser mit dem Argument, dass ihr Parlament, ihre Presse, ihre Gerichte schon für ausreichend Kontrolle und Transparenz sorgten.

Menschenrechte als Hohlbegriff

Was für eine himmelschreiende Logik. Parlament, Gerichte und Presse gibt es zum Beispiel auch in Deutschland. Und selbst in China tummeln sich mutige Blogger und Aktivisten, die über Hinrichtungen, Zensur, Kontrolle und Einschüchterung berichten.

In China gibt es natürlich auch Politiker, die sich von Washington keine Lektionen erteilen lassen wollen und die deshalb ihrerseits einen Menschenrechtsbericht verfassen. Diesmal über die USA selbst, über das Gefangenenlager Guantanamo, CIA-Verhörmethoden, Verbrechen in Kriegsgefängnissen, Rassenungerechtigkeit, Armut und vielleicht auch über die Todesstrafe. Vielleicht - vielleicht auch nicht. Das ist fast schon belanglos.

Menschenrechte sind zum Hohlbegriff geraten, zum Versatzstück politischer Sonntagsreden, zum außenpolitischen Fetisch für jedwede politische Glaubensrichtung. Die religiöse Rechte mobilisiert im Namen der geschundenen Glaubensbrüder, die Linke ruft zum Kampf gegen die unterdrückerischen Mächte der Globalisierung.

Materialschlacht um das Gute und Gerechte

Der amerikanische Präsident George W. Bush zieht für die Freiheit und die Demokratie in die Schlacht, China und andere autoritäre Staaten in Asien verteidigen ihr konfuzianisches Wachstumsmodell und wollen die - vermeintliche - Diktatur des Nihilismus aus dem Westen abwehren.

In Deutschland marschierte eine rot-grüne Bundesregierung unter dem Banner der "Friedenspolitik", eine andere sieht sich zum Friedenseinsatz im tiefsten Afrika verpflichtet, weil es die innere Moral gebietet und nebenbei europäische Werte und Handlungsfähigkeit in neuen Breitengraden demonstriert.

Außenpolitik ist längst zu einer gewaltigen Materialschlacht um das Gute und Gerechte geworden. Menschenrechte, Demokratie und Freiheit müssen herhalten als Universalbegründung für jede ach so simple Interessenpolitik. Die Beziehung der Staaten untereinander gerät damit zum Wettlauf der Selbstgerechtigkeit - bis hin zu der absurden These, dass eine mögliche atomare Aufrüstung Irans ja nur gerecht sei angesichts der Umzingelung des islamischen Staates mit Atommächten. Moral ist ein bewegliches, dehnbares Gut - in der Außenpolitik ist es zum Gummigeschoss für alles und nichts verkommen.

Zu verdanken ist dieser Trend ganz entscheidend der Regierung Bush, die im Zenit amerikanischer Macht und gleichzeitig im Vollbewusstsein ihrer Verletzbarkeit nach dem Terror vom 11. September 2001 die innenpolitische Rhetorik nach außen stülpte und Werte zu predigen begann.

Gleichzeitig lösten sich die USA Schritt für Schritt aus dem kodifizierten Beziehungs-Geflecht der Staaten, aus Bündnissen, vertraglichen Pflichten, völkerrechtlichen Zwängen.

Missbrauch der Moral

An ihre Stelle traten subjektive Maßstäbe und Ideale. Wer mag nicht für Demokratie sein? Wer nicht für Menschenrechte? Wer träte nicht gerne für die Freiheit ein?

Nur: Wer absolute Ziele nennt, wird sich selbst absoluten Maßstäben stellen müssen. Amerikas neues Weltsystem des Guten, Wahren, Edlen konnte nur so lange halten, wie das Land als tadelloses Vorbild funktionierte. Inzwischen sind die Werte ad absurdum geführt.

Doppelzüngige Politik von Rot-Grün

Amerika hat seine Vorbildfunktion verloren und riskiert damit die Führungsrolle in der Welt insgesamt. Es gehört zur Tragik des Landes, dass selbst jetzt nur eine Minderheit diese Mechanik des Niedergangs versteht.

Die deutsche Variante dieses Moral-Stücks heißt BND-Affäre, was die Sache nicht korrekt bezeichnet. Denn in Wahrheit handelt es sich um die Entschlüsselung einer zutiefst doppelzüngigen Politik der rot-grünen Regierung, die auf der einen Seite das moralische Bedürfnis ihrer Wählerklientel bedienen musste, und auf der anderen Seite den Zwängen der Realpolitik nicht entkam und entkommen wollte.

Hätte die Regierung Schröder ihre Wahlkampfworte von der Nicht-Beteiligung am Irak-Krieg umgesetzt, dann wäre kein amerikanisches Flugzeug von deutschem Boden gestartet, wäre kein Spürpanzer in Kuwait geblieben und kein BND-Agent in Bagdad.

Aber die Abzugs-Weisung an den BND gibt es nicht, hingegen durfte sich der Dienst mehr als augenzwinkernd ermuntert fühlen, den Schaden an den gestörten Beziehungen durch klassische Arbeit im Bündnis zu mildern. Der Untersuchungsausschuss wird diesen Widerspruch vielleicht ergründen - vielleicht aber auch nicht, denn es ist ja einfacher, den moralischen Anspruch weiter zu erheben, als in die Niederungen der Realpolitik zu steigen und zu definieren, wohin man in der Welt mit welchen Werkzeugen gelangen möchte.

Moralpredigten wirken zwanghaft

Was also ist eine realistische Außenpolitik? Wo also bleiben Moral, Menschenrechte, Werte, wenn sie so beliebig eingesetzt und missbraucht werden können? Politiker haben in allen Zeiten mit diesem Dilemma gerungen, und ganz besonders jetzt, wo das Prinzip der Staatensouveränität seine Kraft verliert, wo Grenzen weniger zählen und innere Einmischung von äußerer Verflechtung immer schwerer zu trennen sind. Zwei Optionen bleiben definitiv nicht: Beliebigkeit und Rückzug. Wer für Indien die Regeln der Atomkontrolle bricht, der wird sich schwer tun, Iran das gleiche Recht zu verwehren. Rückzug, der klassische Isolationismus, heißt der Reflex des Augenblicks, aber er stammt aus einer Zeit, als die Balance-Politik noch funktionierte und die Welt eben kein Dorf war.

Bleibt also der mühsame Weg: Regeln, Bündnisse, Strukturen, ein Stück mehr gute alte Interessenpolitik und unaufgeregter Einfluss. Überhaupt: Mäßigung ist das Zauberwort, weil die Moralpredigten der Idealisten allenfalls zwanghaft wirken - ob sie nun Menschenrechts-Zeugnisse ausstellen oder glauben, dass sich mit Wahlkampfreden auf Marktplätzen Kriege verhindern lassen.

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