Außenpolitik:In einer schmutzigen Welt

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Erdoğan, Putin, Assad - die Welt besteht nicht nur aus lupenreinen Demokraten. Der Westen muss daher immer wieder heikle Kompromisse eingehen. Doch es gibt rote Linien für den Pragmatismus.

Von Stefan Ulrich

Der Kandidat sammelt Minuspunkte. Er lässt Journalisten mundtot machen, greift brutal in die Justiz ein und stempelt Gegner als Terroristen ab. Die Türkei läuft unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan Gefahr, sich in einen autoritär regierten Staat zurückzuverwandeln. Statt sich der Europäischen Union anzunähern, entfernt sich das Beitrittskandidatenland. Eigentlich ist der "Fortschrittsbericht", den die EU-Kommission an diesem Donnerstag veröffentlichen will, ein Rückschrittsbericht. Eigentlich müsste die EU das Vorstellungsgespräch mit dem Kandidaten unter Protest abbrechen. Doch was tun Europas Politiker einschließlich der Kanzlerin? Sie umwerben Erdoğan und gehen, peinlich berührt, über seine Taten hinweg.

Das lässt sich als Pragmatismus rechtfertigen, als Realpolitik. Schließlich wird Erdoğans Türkei gebraucht, in der Flüchtlingskrise und im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Da lässt man Prinzipien eben mal Prinzipien sein, hält sich die Nase zu und arbeitet mit dem starken Mann in Ankara zusammen.

Der Westen muss mit Autokraten leben - und seine Werte wahren

Der Konflikt zwischen Pragmatismus und Prinzipien fordert den Westen oft heraus: Kommende Woche veranstaltet die EU einen Afrika-Gipfel, um die Immigration aus dem Süden zu begrenzen. Daran nehmen Tyranneien wie das Regime des Sudan teil. Auch haben sich Amerikaner und Europäer damit abgefunden, Russland und Iran in die Friedenssuche für Syrien einzubeziehen. Der Westen lechzt nach Geschäften mit China. Gib es überhaupt rote Linien für den Pragmatismus? Soll man mit Syriens Despot Baschar al-Assad verhandeln? Und Wladimir Putins Vorgehen in der Ukraine vergessen?

Die Welt entspricht nicht Willen und Vorstellung westlicher Demokratien. Eine Mehrheit der Staaten sind Autokratien. Pluralismus, Rechtsstaat und Menschenrechte sind Dinge, die nur der kleinere Teil der Menschheit genießt. Westliche Außenpolitik muss sich dieser Realität stellen. Wer sich nur mit anderen Demokratien abgeben wollte, wäre weltfremd.

Die Demokratien müssen mit den Autokratien leben. Doch sie haben viele Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Oft finden sich gemeinsame Interessen, was Zusammenarbeit sinnvoll macht, beim Klimawandel, im Kampf gegen Terror. Bisweilen lassen sich Geschäfte schließen, mit denen beide Seiten leben können, etwa der Atom-Deal mit Iran. Häufig ist es nötig, enge Kontakte mit autoritär regierten Ländern zu suchen, um auf die Lage dort einwirken zu können. "Wandel durch Annäherung", nannte Egon Bahr das. Er bezog sich auf die Ostpolitik. Heute ist es notwendig, Europas Tür zur Türkei offen zu halten, damit sich diese dem Westen nicht ganz verschließt.

Manchmal ist es jedoch geboten, rote Linien zu ziehen. Letztlich geht es um eine Güterabwägung im Einzelfall. Beispiel Krim: Natürlich wäre die Beziehung zu Russland einfacher, wenn der Westen den Landraub akzeptieren würde. Die Annexion der Krim ist jedoch ein Tabubruch. Erstmals seit Langem verschlang da in Europa ein Staat mit Gewalt ein Stück eines anderen Staates. Dies könnte Schule machen. Das Prinzip, dass Grenzen nicht gewaltsam verändert werden dürfen, ist es wert, verteidigt zu werden. Daher wurde Russland zu Recht mit Sanktionen belegt und aus den G 8 ausgeschlossen. Beispiel Assad: Der Diktator lässt Zivilisten seines Volkes mit Fassbomben ermorden und bricht notorisch Zusagen. Er zeigt, dass er um jeden Preis herrschen will. Solange sich das nicht ändert, sind Verhandlungen mit ihm sinnlos.

Im Zweifel sah der Westen über seine Werte bislang zu leicht hinweg. Die USA unterstützten einst in Lateinamerika die schaurigsten Diktaturen. Europäische Regierungen umschmeichelten den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi, damit dieser Flüchtlinge aufhielt. Deutschland liefert Waffen in äußerst zweifelhafte Länder. Wer seine Prinzipien so hemmungslos hingibt, macht sich unglaubwürdig und verliert Selbstachtung.

Die Demokratien befinden sich mit den Autokratien im Wettstreit der Systeme. Auch wenn sie sich gezwungen sehen, mit autoritären Regimes zusammenzuarbeiten, dürfen sie sich doch nie anbiedern; sie müssen Distanz wahren und die Menschen- und Bürgerrechte einfordern. Das kann in nahezu paradoxe Situationen führen. So verhandelten im Frühjahr 1999 die Nato-Staaten mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević über ein Ende des Kosovo-Krieges, während dieser vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde. Verhandeln und anklagen - beides erwies sich als richtig, um pragmatisch zu bleiben, ohne seine Prinzipien aufzugeben.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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