Außenansicht:Worauf es ankommt

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Mario Fortunato, 58, wurde in Kalabrien geboren und lebte in London, Berlin und Rom. 1991 veröffentlichte er mit dem Tunesier Salah Methnani das Buch "Immigrant", das den Pier-Pasolini-Preis erhielt. (Foto: imago)

Die Europäische Union wird 60 Jahre alt - ein Grund, sich zu erinnern, wie gefährdet ihre Freiheiten sind.

Von Mario Fortunato

Es dauert noch etwas mehr als ein Jahr, dann werde ich sechzig Jahre alt sein. Das allein ist sicher keine Nachricht. Warum ich trotzdem darüber schreibe, hat damit zu tun, dass auch die Europäische Gemeinschaft 60 wird. Am 25. März 1957 wurden die Römischen Verträge von den sechs Gründerländern (Italien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg) unterzeichnet. Ich bin also, mit anderen Worten, fast so alt wie das einzige politische Projekt in der Geschichte, das unserem Kontinent eine so lange Zeit des Friedens gesichert hat - und mir selbst eine akzeptable Existenz, zumindest in moralischer Hinsicht: Es ist eine Sache, Probleme zu haben (Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit), und eine andere, dieselben Probleme zu haben und außerdem noch an die Front zu müssen und andere Menschen zu töten. Das hat mir - obwohl ich an keinen Gott glaube - zumindest erlaubt, relativ ruhig zu schlafen.

Seit die Europäische Union entstand, hat sie mehrmals den Namen gewechselt (meiner blieb unglücklicherweise gleich), was eine gewisse Lebendigkeit ihres Charakters bezeugt. Vor allem aber ist sie viel größer geworden. Von sechs Mitgliedern ist sie bei 28 angekommen. Von denen hat sich Großbritannien kürzlich davongemacht und sich dabei im Inneren gespalten. Nun sieht das Land beträchtlichen Steuererhöhungen entgegen (so hat es Premierministerin Theresa May angekündigt), von denen ich bezweifle, dass sie den Bürgern des Vereinigten Königreiches gefallen werden. Aber, wie es so schön heißt: "So wie man sich bettet, so liegt man." Bemerkenswert bleibt, dass sich die EU nicht durch mehr oder weniger gewaltsame Annexionen vergrößert hat, sondern in einem freien, demokratischen Prozess. Die Adjektive sind keine Phrase: Die Staaten und ihre öffentliche Meinung haben entschieden, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, mit allen Vorteilen und möglichen Nachteilen - genau wie ich einst beglückt entschieden habe, mich der Literatur zu widmen, mit allen wirtschaftlichen Konsequenzen.

Natürlich weiß ich, dass mit 60 die Gesundheit heimtückischen Attacken ausgesetzt sein kann. Die Beschwerden machen sich bemerkbar, sinnlos darum herumzureden. Konnte ich vor zwei, drei Jahrzehnten beim Schreiben noch viele Stunden am Stück sitzen, so habe ich heute Rückenprobleme und muss die Arbeit oft unterbrechen, um die Gelenke zu lockern. Dafür bietet sich der Garten an, dem es heute weit besser geht als früher, weil ich ihm in den Pausen die Pflege schenke, die er immer verdient hätte, auch als der Rücken noch in Bestform war und die Zeit in angenehmem Reisetempo verging.

Es waren viele Direktiven aus Brüssel, die das Leben freier gemacht haben

Ich will damit nicht andeuten, dass in dem Alter, das die EU erreicht hat, also in meinem eigenen, das Altern nicht ein erhebliches Ärgernis bedeuten kann. Es ist allzu offenkundig, dass man sich mit 20 viel mehr amüsiert, gar nicht zu reden vom Sex. Dennoch, in unserem Alter (meinem und dem der EU), ist man sich klarer bewusst, dass Grundrechte sehr schwer zu erringen sind, dass aber ein Augenblick der Ablenkung reicht, um sie auf einen Schlag zu verlieren. Und wenn man die Vergangenheit anschaut, auch nach nur 60 Jahren, versteht man, dass ich nicht scherze. Man denke an die Möglichkeit, sich in ganz Europa frei zu bewegen ohne lächerliche Visa und Stempel im Pass (dabei wende ich mich besonders an jene, die in der Ex-DDR, in Polen oder Ungarn geboren wurden). Man denke an die frühere Wirtschaftslage vieler Mitgliedsländer der EU, einschließlich meines eigenen. Als Kind hatte ich in Kalabrien viele Klassenkameraden, die barfuß zur Schule kamen. Und dies nicht aus Unangepasstheit. Man denke an Diskriminierungen generell, an das allgemeine Empfinden, das Frauen und Homosexuelle an den Rand der Gesellschaft verwies, und daran, dass es die viel geschmähten europäischen Direktiven waren, die uns dazu gebracht haben, dies alles zu überwinden.

Jemand wird mich jetzt sicher an viele andere EU-Direktiven zu erinnern: über die Größe von Zucchini, das Funktionieren von Staubsaugern und vieles andere mehr. Ja, das war Blödsinn auf höchstem Niveau. Aber vergleicht man es mit dem Rest, war es eben nur das: Blödsinn. Enthalten vielleicht nationale deutsche, italienische oder holländische Gesetze nicht ähnlichen Quatsch?

Und dann das Thema Einwanderung, das große Totem unsere Zeit. Ein Totem, so stark, dass es einen großen Teil der europäischen Öffentlichkeit dazu getrieben hat, zwischenmenschliche Beziehungen als Frage der Bautechnik zu sehen: Mauern hochziehen, Brücken abreißen, Türen und Fenster schließen.

Es ist klar, dass wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Terrorismus Angst machen. Und unter Angst reagiert man nicht immer rational. Lassen Sie es sich von dem Herzkranken sagen, der in mir steckt: Wenn er allein mitten in der Nacht aufwacht und die Gedanken nichts davon wissen wollen, rational zu sein. Wenigstens am Tag jedoch weigert sich der fast 60-Jährige, der ich bin, sich von diesen Ängsten beherrschen zu lassen und aus ihnen ein Schild zu machen, um andere abzuwehren. Nicht weil er edel und mutig wäre, sondern weil er weiß, oder zu wissen glaubt, dass es das Problem nicht löst, anderen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, sich zu Hause einzuschließen und zu lamentieren. Das Problem hat man trotzdem, und es nützt nichts, sich der Angst zu überlassen. Hingegen kann es helfen, ein paar Pillen zu schlucken, auch wenn sie nicht besonders gut schmecken.

Ich will niemandem irgendeine Predigt halten - erst recht nicht dem Herzkranken von oben. Es reicht daran zu denken, dass meine ersten 60 Jahre bei Weitem angenehmer waren, als jene, die das Schicksal meinem Vater zugedacht hatte. Das weckt in mir den Wunsch, nach Brüssel zu reisen und allen Abgeordneten die Hand zu schütteln, die wir ins EU-Parlament gewählt haben. Sogar denen, die jeden Tag auf den Teller spucken, von dem sie all die Jahre gegessen haben. Sogar einem, wie dem ungarischen Ministerpräsidenten, der vergessen haben muss, wie schön und fröhlich Budapest war, als die Berliner Mauer noch stand und seine Landsleute ins Ausland flohen, um dort ihr Leben neu zu beginnen.

Vielleicht würde ich nur dem Abgeordneten Matteo Salvini nicht die Hand schütteln wollen, dem Führer der italienischen Lega Nord und überzeugtem Anti-Europäer. Aber nicht aus Feindseligkeit, sondern einfach, weil er nicht da wäre. Auch wenn er eine angemessene Entschädigung erhält, bleibt er in sturer Folgerichtigkeit fast 80 Prozent der Parlamentssitzungen fern.

Aus dem Italienischen von Andrea Bachstein.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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