Außenansicht:Was von Luther bleibt

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Susanne Breit-Keßler, 62, ist Ständige Vertreterin der Landesbischofs und Regionalbischöfin für München und Oberbayern. (Foto: Robert Haas)

Kein Protestant von Verstand verteidigt die Hasstiraden des Reformators. Trotzdem sollte man seine Theologie feiern.

Von Susanne Breit-Keßler

Als kleine Lutheranerin in oberbayerischer Diaspora, als einziges evangelisches Mädchen in der Klasse, definierte ich meine geistliche Existenz vor allem via negationis. Wir hatten keine Maria (falsch!), keinen Weihrauch, kein Fronleichnam, keine Reliquien. Hochgefühle stellten sich nur bei der triumphal den römischen Glaubensgeschwistern entgegengeschleuderten Bemerkung ein, "wir" müssten im Diesseits nicht zur Beichte und bräuchten im Jenseits nicht mit Fegefeuer zu rechnen. Wie klein gedacht.

Das Jubiläum der Reformation, das 2017 gefeiert wird, hat mit solchem Kinderkram nichts zu schaffen. Es ist international und ökumenisch angelegt. Die Gegensätze zur römisch-katholischen Kirche, Diskurse mit Calvinisten und Zwinglianern spielen keine entscheidende Rolle mehr. Es ist auch allen über die Reformation Jubilierenden klar, dass es nicht um Heldenverehrung geht. Niemand kann es bei der Bewunderung für einen tief mittelalterlichen Menschen wie Luther belassen.

Martin Luthers Unfreundlichkeit gegenüber Frauen, seine Tiraden gegen Juden und Türken sind sattsam bekannt und ausreichend konterkariert. Kein Protestant von klarem Verstand wird an diesen Unsäglichkeiten festhalten. Die Evangelische Kirche in Deutschland rückt aber neu die theologischen Einsichten in den Mittelpunkt, die er und seine Mitstreitenden - unter ihnen auch Frauen - gewonnen haben.

Bleibenden Einfluss hat sein theologischer Ernst, gepaart mit bodenständigem Witz. Die Beharrlichkeit, der Mut, einen eigenen Weg zu suchen und ihn auch zu gehen. Die Gabe, sich Gott ganz anzuvertrauen, und gleichzeitig mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen. Eine kluge Mischung aus Distanz zur Welt und intensiver Hinwendung zu ihr.

Meine lutherische Leidenschaft begann, als ich das erste Mal auf den Reformator traf - in einem Film, in den wir Gymnasiasten am Reformationstag geschickt worden waren. Da oben tobte, weinte, lachte, liebte, grübelte Dr. Martinus, zermarterte sich Kopf und Seele, argumentierte und kämpfte - ein prallvolles Menschenleben, dem ich nachzueifern gedachte. Und zwar weil Luther ein Ende machte mit den Kämpfen und Krämpfen, durch die ein Mensch versucht, sich dem lieben Gott und seiner Umwelt angenehm und passend zu machen.

Der liebe Gott ist für manche heute weniger interessant. Dafür huldigt man bis zur Selbstaufgabe zeitgenössischen Götzen: Präsenz und Erreichbarkeit rund um die Uhr, Gesundheit, Fitness, Vitalität bis ins hohe Alter, Schönheit und Erfolg. Die Gesellschaft verlangt schon ungeborenen Kindern Perfektion ab. "Defizite" sind, wenngleich menschlich, nicht gern gesehen. Fix und fertig ist der Zeitgenosse, wenn er sich ständig selbst vor Chef oder Kollegen rechtfertigen muss, vor Eltern, Partnern, Kindern, Freunden - quasi vor aller Welt.

Das gesellschaftliche Fegefeuer der Eitelkeiten soll ein Ende haben

Rechtfertigung, wie sie Luther aus biblischen Gründen postuliert, ist demgegenüber Raum zum Leben. Jeder Mensch, mit Schwächen und Fehlern, mit dem, was er wunderbar hinbekommt oder ordentlich versaubeutelt, ist gerechtfertigt allein aus Gnaden - bei Gott gut angesehen. Kind, Mann und Frau können sich also erst einmal aufatmend zurücklehnen und entlastet auf das eigene Ich schauen, gleich, was die anderen sagen. Dass man auf diese gelöste, erlöste Weise eher bußfertig um Veränderung bemüht ist, wo nötig - und es ist nötig! - versteht sich von selbst.

Das gesellschaftliche Fegefeuer der Eitelkeiten, die Hölle der gegenseitigen Tribunalisierungen - "du bist nicht, wie wir dich haben wollen" - sollen ein Ende haben. Reformation, das ist Kritik an kollektivem Autismus und Leben nach Diktat. Identität wird auch heute oft hermetisch definiert, statt sie reformatorisch neu durch Dialog, Einsicht und veränderte Einstellung zu entwickeln. Ich bin, was ich sein muss - Luthers homo incurvatus, der verkrümmte Ego-Shooter, bekommt durch Rechtfertigung allein aus Gnade endlich eine aufrechte Haltung.

Begeistertes reformatorisches Lebensgefühl meint: Weder muss noch brauche ich mich zu rechtfertigen, sondern ich bin gerechtfertigt vor Gott. Daran haben sich andere, übrigens auch die Kirche, zu orientieren. Es hat ein Ende damit, dass Menschen ihre eigene Existenz, ihr Recht auf ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit begründen müssen. Es hat ein Ende damit, dass Leistung und Versagen darüber bestimmen, ob ich akzeptiert werde oder nicht. Natürlich wissen wir Jubilierenden, dass es trotz dieser theologischen Wahrheit hienieden oft kein Ende dieser Zwänge gibt. Das liegt auch daran, dass Rechtfertigung nicht genug als wirksame praktische Lebenshilfe offeriert und in Anspruch genommen wird. Die Reformation global und ökumenisch zu feiern ist Befreiungsakt im Glauben, ist persönlicher und gemeinsamer Exodus aus Enge und Angst. Die Kirche der Reformation will mit dem Jubiläum deutlich machen, dass in Gottes Namen Freiheit und Barmherzigkeit, diakonische Freundlichkeit und sinnliche Lebensfreude im Mittelpunkt des Daseins stehen.

Die evangelische Kirche stellt die notwendigen Fragen: Was ist Rechtfertigung im Glauben für Geschiedene, für Singles, für Schwule und Lesben? Was bedeutet sie für alle, die in unserer Leistungsgesellschaft höchste Verantwortung tragen? Für Menschen mit Behinderungen? Für Sozialhilfeempfänger, Obdachlose und jene, die anderswo Opfer unserer üppigen Lebensweise sind? Für alte, demente Menschen? Reformatorische Rechtfertigung meint jedenfalls nicht, Freiheit nur dann zu goutieren, wenn sie einem selber dient.

Das Reformationsjubiläum widmet sich zu Recht auch der Sprache. Vor allem in einer Zeit, in der sich blitzartig unreflektiert-bösartige oder dummdreiste Kommentare via Internet verbreiten. Sprache muss um Gottes willen menschenfreundlich sein. Respektvoll möglich machen, dass einer Raum hat, erzählen kann, wie er wurde. Nur so kann er oder sie entdecken, dass die Lebensgeschichte ihren inneren Sinn hatte und dass es ebenso sinnvoll ist, nicht dabei stehen zu bleiben.

Natürlich gibt es Konkurrenz der Rechtfertigungen rund um die reformatorische. Das bevorstehende Jubiläum begreift die Vielfalt der Sichtweisen als Ausdruck vielfältiger Erfahrungen. Ihnen gegenüber gilt es, die Rechtfertigung im Glauben schwungvoll neu auszulegen: Nicht der fertige, sondern der gerechtfertigte Mensch weiß um seine schwachen Seiten und arbeitet daran. Authentisch sagt man heute gerne, stimmig. Mir ist lieber, vom Herzton zu sprechen. Der Herzton ist dort vernehmbar, wo das eigene Herz schlägt. Meins schlägt nicht für das Jubiläum, sondern für das, wofür es steht: getroste Freiheit.

© SZ vom 07.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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