Außenansicht:Vorsicht vor Wächtern

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Die Suche nach dem Standort für ein Atommüll-Endlager ist Sache des Parlaments, nicht von Expertenräten.

Von Hans Peter Bull

Die Suche nach dem geeigneten Standort für ein Atommüll-Endlager gehört zu den schwierigsten Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Der Deutsche Bundestag hat versucht, den Entscheidungsprozess so gewissenhaft wie möglich zu organisieren: Im Standortauswahlgesetz von 2013 sind die Stufen dieses Prozesses festgelegt. Es ist bestimmt, dass daran das Parlament, spezielle Bundesämter, aber auch die Wissenschaft und die Öffentlichkeit intensiv beteiligt werden. Eine beim Bundestag angesiedelte Bund-Länder-Kommission mit hochrangiger Besetzung berät seit fast zwei Jahren über die Grundentscheidungen, die bei der Suche und beim weiteren Verfahren beachtet werden sollen. Die Kommission arbeitet auch an Vorschlägen zur Verbesserung des Gesetzes selbst, auf dessen Basis sie angetreten ist. Ihr Bericht soll nach dem Gesetz spätestens am 30. Juni dieses Jahres abgegeben werden.

Nun wird in dieser Kommission gefordert, sogleich nach Abgabe des Berichts ein neues Gremium einzusetzen, das die Standortsuche und die Arbeit der beteiligten Behörden "überwachen" soll: ein "pluralistisch zusammengesetztes gesellschaftliches nationales Begleitgremium als Wächter des Prozesses der Standortauswahl zur gemeinwohlorientierten Begleitung". Es soll - so die Begründung - "den Standortsuchprozess begleiten, erklären und überwachen sowie regulierend zwischen den Akteuren eingreifen können" und dazu Akteneinsicht beim Bundesamt für kerntechnische Entsorgung und beim Vorhabenträger erhalten. Gewünscht wird also noch eine weitere Instanz, die zu den ohnehin beteiligten hinzutritt, eine neue Organisation mit eigener Geschäftsstelle, Geschäftsordnung und der Befugnis, Gutachten zu vergeben.

Der Begriff "Wächterrat" taucht tatsächlich in den Papieren der Kommission auf. In Iran ist dieses Gremium die oberste Kontrollinstanz; sie soll die Herrschaft der Geistlichen über alle Staatsorgane (einschließlich des Parlaments) sichern. In unsere demokratische, gewaltenteilende Verfassung passt kein religiöses Wächtergremium - und auch kein säkularisierter Kontrollrat. Es gibt keine reine Lehre, die auf diese Weise verteidigt werden könnte, und keine Geistlichen, die sie definieren könnten.

Das Gremium soll aus neun Mitgliedern bestehen, die vom Bundestagspräsidenten berufen werden. Drei sollen vom Bundestag, drei vom Bundesrat vorgeschlagen werden; es sollen Personen sein, die "gesellschaftlich hohes Ansehen genießen". Daneben sollen zwei Bürger oder Bürgerinnen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Ein Vertreter oder eine Vertreterin der jungen Generation soll durch "ein Bewerbungs- und anschließendes Losverfahren" bestimmt werden. Nicht gesagt wird, auf welche Weise dabei die Repräsentativität und Transparenz der Auswahl gesichert werden und ob man ernsthaft erwarten kann, dass die so errichtete Kontrollgruppe den zu Kontrollierenden überlegen ist.

Einige Verbände zeigen nur Misstrauen und Verachtung für Parlamente

Sie kann es nicht sein, und im Grunde ist das auch gar nicht beabsichtigt. Die ganze Konstruktion dient offensichtlich nur dazu, das "große Bedürfnis gesellschaftlicher Gruppen, sowohl das Gesetzgebungsverfahren als auch den Aufbau behördlicher Strukturen von Anfang an zu begleiten und die Gewissheit zu haben, 'dass es so etwas wie ein Wächtergremium gibt" (so der SPD-Abgeordnete Matthias Miersch).

Dieses Bedürfnis ist verständlich, aber mit der Verfassung nicht vereinbar. Die gesellschaftlichen Gruppen - das sind vor allem die Umweltverbände, die sich in der Endlagerfrage engagieren, aber vielleicht sind auch die Lobbyisten der Industrie mitgemeint - haben zahlreiche Möglichkeiten, ihre Erkenntnisse, Meinungen und Forderungen einzubringen, und finden damit Beachtung. Freilich verstehen einige Verbände die Öffentlichkeitsbeteiligung so, dass nur ihre Vorstellungen umgesetzt werden. Gegenüber dem gewählten Parlament und den zuständigen Behörden zeigen einige dieser Öffentlichkeitsvertreter geradezu Verachtung, viele zumindest extremes Misstrauen.

Das wird zwar in der Begründung des Vorschlages kaschiert, wenn es heißt, dass die Standortsuche "nur erfolgreich" sein werde, "wenn ein gesellschaftlicher Konsens erreicht werden kann". Für die "umfassende gesellschaftliche Beteiligung" sei eine "gegenüber Behörden, Parlament und direkt beteiligten Unternehmen und Experteneinrichtungen unabhängige gesellschaftliche Instanz" von "besonderer Bedeutung", "die über dem Verfahren steht und sich durch Neutralität und Fachwissen auszeichnet sowie Wissens- und Vertrauenskontinuität vermittelt".

Diese Formulierung lässt aufhorchen. Die Sehnsucht nach einer "über dem Verfahren stehenden" Instanz deutet auf eine innere Distanz der Autoren zur Rechts- und Verfassungsordnung unseres Staates hin. Demokratie und Rechtsstaat bewähren sich gerade in gesetzlich geordneten Verfahren; die Bewahrung der Individualrechte und des Gemeinwohls setzt sachgerechte Organisation und richtiges Verfahren voraus. Sind denn der Bundestag, die Bundesämter, die Gerichte und die anderen gesetzlichen Kontrollinstanzen allesamt nicht neutral oder inkompetent? Das zu behaupten wäre starker Tobak und Ausdruck einer Staatsverdrossenheit, die man zumindest bei Bundestagsabgeordneten nicht vermutet hätte.

Damit ist klar: Diesen Wächterrat brauchen wir nicht. Er ist überflüssig und passt nicht in die Gewaltenteilung, wie sie die Verfassung vorsieht. Er ist als Kontrollinstanz (neben Gerichten und Rechnungshöfen) zwischen den Gewalten angesiedelt, ohne ausreichende Legitimation, ohne klar abgegrenzte Befugnisse. Man könnte ihn als intervenierende oder gleich als störende Gewalt bezeichnen. Der Vorschlag beruht auf der Illusion, dass ein Standort für ein Atommüll-Endlager nur im Einvernehmen aller Beteiligter beschlossen werden könnte. Aber das Verfahren mag noch so sorgfältig ausgeführt, es mögen noch so viele Verbände und Experten angehört und noch so viele Diskussionsrunden durchgeführt werden - die unmittelbar Betroffenen, die Nachbarn des geplanten Endlagers werden verständlicherweise immer dagegen protestieren.

Wer am Ende tatsächlich ein Opfer für die Allgemeinheit erbringt, muss angemessen entschädigt werden. Aber erst einmal muss entschieden werden. Diese Entscheidung darf nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgezögert werden, und sie kann keine "gesellschaftliche", sondern nur eine staatliche Entscheidung sein - nämlich eine der verfassungsmäßigen Volksvertretung.

© SZ vom 20.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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