Außenansicht:Von wegen dumm gelaufen

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Otto Lagodny (57) ist Professor für Straf- und Strafverfahrensrecht und Strafrechtsvergleichung an der Universität Salzburg. (Foto: OH)

Der Fall Mansour hat schwere Mängel in der deutschen Auslieferungspraxis gezeigt.

Von Otto Lagodny

Der ägyptische Fernsehjournalist Ahmed Mansour saß im Juni gut zwei Tage in einem deutschen Gefängnis, um nach Ägypten ausgeliefert zu werden. Erst dann und nach heftigen Protesten in der Öffentlichkeit zog die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Notbremse und ließ Mansour wieder frei. Es war jedoch kein Richter, der diese Freilassung verfügt hat, sondern ein Strafverfolger. Dieser Vorgang bedarf der Erklärung.

Die Gründe liegen in nationalen Gesetzen und in der internationalen und nationalen Rechtspraxis. Worum es dabei geht, sei an einem Beispiel verdeutlicht: Der strafrechtlich Verfolgte V. wird in der Bundesrepublik Deutschland bei der Ein- oder Ausreise festgenommen, weil er von Interpol auf Bitten eines einzelnen Staates zur Fahndung und Festnahme durch die anderen Staaten ausgeschrieben ist. Die Ausschreibung wird nur in sehr seltenen Fällen von Interpol auf Missbrauch überprüft. Das weitere Vorgehen hängt vom nationalen Recht und von der Praxis des Staates ab, in dem V. festgenommen wird. Das deutsche Gesetz (IRG) lässt dabei Folgendes zu: Die Polizei führt V. vor den Richter beim zuständigen Amtsgericht. Dieser prüft nur, ob V. auch tatsächlich die Person ist, die gesucht wird. Mehr darf er nach dem Gesetz gar nicht entscheiden; vor allem darf er ihn nicht freilassen. Das darf erst das Oberlandesgericht (OLG). Deshalb muss der Amtsrichter zugleich eine "Festhalteanordnung" bis zur OLG-Entscheidung verantworten und so schnell wie möglich das OLG informieren, wenn er Bedenken gegen die weitere Haft des Betreffenden hat. In der deutschen Praxis sind auf diese Weise oft schon mehrere Tage verstrichen, ohne dass V. überhaupt einen entscheidungsbefugten Richter gesehen hat.

Dies ist eine rechtsstaatliche Zumutung für den Richter beim Amtsgericht und erst recht für den Verfolgten selbst. Das Bundesverfassungsgericht (16. 9. 2010 - 2 BvR 1608/07) hat diese Gesetzeslage zwar etwas gemildert: Das Amtsgericht sei zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, die Haftvoraussetzungen "in notwendig summarischer Weise" zu prüfen und auch zu verneinen. Der Grund für die juristischen Klimmzüge ist einfach: Man will die scharfen Fristvorgaben des Grundgesetzes vermeiden. Nach Artikel 104, Absatz 3 ist jeder vorläufig Festgenommene "spätestens am Tage nach der Festnahme" dem Richter vorzuführen. Dieser hat dann "unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen". Der Journalist Mansour wurde am Samstag festgenommen. "Der Richter" (und nicht erst die Generalsstaatsanwaltschaft) hätte also spätestens am Sonntag, 24 Uhr, eine Entscheidung treffen müssen. Die Freilassung am Montag war zu spät.

Bei Auslieferungsanträgen wird heute das Grundgesetz wegargumentiert

Freilich sieht die deutsche Praxis bis heute nicht ein, dass auch einem Auslieferungsverfahren der "Verdacht einer strafbaren Handlung" zugrunde liegt; kein deutscher zwar, aber ein ausländischer. Das ändert nichts an dem Entzug der Freiheit. Selbst das Bundesverfassungsgericht vermeidet eine klare Stellungnahme. Der Hintergrund liegt auf der Hand: Das Oberlandesgericht und damit kein Gericht niederer Instanz (Landgericht, Amtsgericht) soll nach dem Willen des Gesetzgebers für die naturgemäß schwierigen Auslieferungssachen zuständig sein. Dann müsste man wegen der Garantie des Grundgesetzes einen Bereitschaftsdienst für das Wochenende einführen. Weil man die Kosten aber vermeiden will, bedient man sich der Amtsgerichte mit ihrem turnusmäßigen Bereitschaftsdienst. Damit ist zwar formal ein Richter eingeschaltet, diesem verbietet das Gesetz jedoch gleichsam den Mund. Es bleibt mithin nichts übrig von der zeitnahen richterlichen Kontrolle, die das Grundgesetz zwingend für einen Strafverfolgungseingriff in die Freiheit fordert. Der einzige Ausweg besteht darin, das Grundrecht aus Artikel 104, Absatz 3 wegzuargumentieren.

Nun mag man einwenden, dass es doch nicht so schlimm sei, vor allem dann, wenn ein sogar international Gesuchter länger ohne richterliche Entscheidung in Haft ist. Damit würde man aber übersehen, wie schnell man auch als Unschuldiger oder - gleichbedeutend - als Nicht-Auslieferungsfähiger von einer solchen Haftautomatik betroffen sein kann. Dazu genügt ein Blick auf die Praxis von Interpol. Dort werden Personen zur Fahndung und Festnahme ausgeschrieben, für die ein nationaler Haftbefehl vorliegt. Damit muss nicht nur Interpol, sondern jeder der knapp 200 Staaten, die momentan zu dieser privatrechtlichen Vereinigung gehören, dem "Haftbefehls-Staat" zumindest insoweit vertrauen, als die gesuchte Person nach dessen Prüfung erstens einer Straftat verdächtig ist und zweitens grundsätzlich auch ausgeliefert werden würde. Kontrollen durch Interpol sind praktisch auf Ausnahmen beschränkt. Die genauere Prüfung übernehmen vielmehr die einzelnen Interpol-Staaten in ihrem jeweiligen Auslieferungsverfahren.

Blickt man jetzt zurück auf die deutsche Praxis, so wird klar: Nicht nur ein tatsächlich Unschuldiger, sondern auch ein Verdächtiger, dem Todesstrafe oder Folter drohen, kann ohne richterliche Entscheidung in deutscher Haft sitzen, obwohl er keinesfalls ausgeliefert und deshalb auch nicht zu diesem Zwecke in Haft genommen werden dürfte.

Auf nationaler Ebene müsste man sich die Gewährleistung der Freiheit entweder etwas kosten lassen, oder solche Entscheidungen wie die der Generalstaatsanwaltschaft Berlin müssten häufiger ergehen. Aber das erfordert Mut und Rückgrat. Daran scheint es mindestens einem der zuvor am deutschen Verfahren Beteiligten gefehlt zu haben. Interpol hat sogar intensiv gewarnt, es könne ein Fall politischer Verfolgung und missbräuchlicher Nutzung der Interpol-Wege vorliegen. Schon das ist sehr außergewöhnlich. Um die Warnung von Interpol überprüfen zu können, hätte es vor allem der Festnahme von Mansour nicht bedurft. Im Auslieferungsverfahren kommt es nur ausnahmsweise auf den Tatverdacht und Ausführungen des Verfolgten hierzu an. Auch das ist eine Besonderheit des Verfahrens.

Dennoch haben die beteiligten deutschen Behörden mit Ausnahme der Generalstaatsanwaltschaft den üblichen Weg gewählt und mitgewirkt. Es gab aber jede Menge an Möglichkeiten, um den Fall schon wesentlich früher sachgerecht zu entscheiden und Mansour gar nicht erst in die deutsche Fahndung zu geben. Das ist keineswegs "dumm gelaufen", wie aus Regierungskreisen beschwichtigend kolportiert wurde. Geschützt hat Mansour letztlich nur seine Publizität, die andere nicht haben.

© SZ vom 10.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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