Außenansicht:Resozialisierung neu denken

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Bernd Maelicke, 76, ist Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft (DISW), Hamburg. (Foto: N/A)

Nach der Bundestagswahl ist eine grundlegende Reform des Strafvollzugs in Deutschland nötig.

Von Bernd Maelicke

Der deutsche Strafvollzug löst seine Versprechen nicht ein, weder das der Resozialisierung, noch das der Sicherheit für die Gesellschaft. Dass der Befund weltweit für alle Gefängnissysteme gilt, ist kein Trost: Die Reformeuphorie gehört der Vergangenheit an, Ernüchterung ist bei Wissenschaftlern, Praktikern und Politikern verbreitet.

Die Angst vor Kriminalität ist als eines der wichtigsten Themen dauerhaft und nicht nur in Wahlkampfzeiten tief im öffentlichen Bewusstsein verankert. Statistiken über den vor allem durch den demografischen Wandel bedingten Rückgang von Straftaten vermögen daran nichts zu ändern. Jeder Mord, jeder Einbruch bedroht das Sicherheitsgefühl, der weltweite Terrorismus kommt hinzu. Wie könnte also eine Reformagenda für den deutschen Strafvollzug aussehen? Die Partei- und Wahlprogramme zur Bundestagswahl vernachlässigen dieses Thema komplett (wer nichts verspricht, kann auch kein Versprechen brechen).

Der größte Vorteil der Gefängnisse liegt in der simplen Tatsache, dass der sicher untergebrachte Gefangene außerhalb der Anstalt keine Straftaten begehen kann. Soweit es sich um besonders gefährliche Straftäter handelt, kann zumindest für die Zeit im geschlossenen Vollzug diese äußere Sicherheit gewährleistet werden. Nicht vermieden werden können jedoch Straftaten zwischen den Gefangenen und gegenüber dem Personal - hier stellen sich gravierende Probleme der Gestaltung von Sicherheit und Ordnung, von Kommunikation und Klima im Vollzug. Auch für Täter mit so schweren Delikten wie Menschenhandel, Völkermord oder organisierter Kriminalität ist eine zumeist lange Freiheitsstrafe als ultima ratio des Strafrechts unverzichtbar.

Für beide Tätergruppen (es sind zwischen 20 und 30 Prozent der derzeitigen Belegung in den Gefängnissen) kann der geschlossene Strafvollzug sein Sicherheitsversprechen weitgehend einlösen. Ausbrüche sind in Deutschland äußerst selten, anstaltsinterne Kriminalität bleibt zwar ein ungelöstes Problem, dieses interessiert die Öffentlichkeit aber wenig. Auch die besonders gefährlichen und die Gefangenen, die besonders schwere Verbrechen begangen haben, müssen aber nach dem Grundgesetz die Perspektive der Entlassung, also letztlich der Resozialisierung, haben. Deshalb sind die Übergänge des offenen Vollzugs, der Entlassung und der Eingliederung in die Gesellschaft besonders schwierige Aufgaben für alle an diesen Schnittstellen tätigen Organisationen.

Besonders kurze Freiheitsstrafen sollten vermieden werden

Etwa zehn Prozent aller Gefangenen verbüßen eine kurzfristige Ersatzfreiheitsstrafe, wurden also vom Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, die sie anschließend nicht bezahlen konnten. Es sind pro Jahr etwa 50 000 Eierdiebe und Schwarzfahrer, sie gehören der Armutsbevölkerung an, sie können im und durch das Gefängnis nicht resozialisiert werden. Etwa 25 Prozent aller Entlassenen jedes Jahr haben eine kurze Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verbüßt, ihre Delikte sind überwiegend der leichten Kriminalität zuzuordnen. In der Praxis des Vollzugs ist es unstreitig, dass in dieser kurzen Zeit keine wirksamen Resozialisierungserfolge möglich sind - die negativen Effekte, wie Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, der sozialen Beziehungen und der anstaltsinternen Subkultur sind offenkundig. Die Rückfallquoten sind nach der Entlassung besonders hoch. Die 16 Bundesländer gehen mit diesen Gruppen, die als Fehlbelegung verstanden werden müssen, sehr unterschiedlich um: Dies zeigen etwa die Gefangenenraten in den von der in ihrer Sozialstruktur vergleichbaren Ländern Rheinland-Pfalz (etwa 80 Gefangene pro 100 000 Einwohner) und Schleswig-Holstein (40 Gefangene).

Diese Raten sind nicht schicksalhaft vorgegeben, sie können gesteuert werden, zum Beispiel durch die Art und Weise der Vollstreckung von Geldstrafen oder durch gemeinnützige Arbeit zur Vermeidung der Ersatzfreiheitsstrafen. Je mehr Straftäter durch Bewährungshelfer betreut werden (mit deutlich niedrigeren Rückfallquoten wie der Vollzug), desto weniger werden inhaftiert (mit erheblichen Kostenvorteilen für die Länderhaushalte).

Der größte Teil der Gefangenen verbüßt Freiheitsstrafen zwischen einem und fünf Jahren - es sind überwiegend Wiederholungstäter mit mittelschweren Delikten, sie stehen im Zentrum der Maßnahmen und Programme der Anstalten. Ein breites Behandlungsrepertoire steht zur Verfügung. Die wichtigsten sind schulische und berufliche Ausbildung, Sexual- und Gewalttherapien, soziales Training, Sport. Erfolge sind allerdings gefährdet durch die unvermeidbare Dominanz der Männer-Subkultur, Gewalt, sexuellen Missbrauch, Drogenhandel. Das "Knast-Dilemma" ist in jedem Gefängnis in jeder Minute alltäglich präsent.

Und alles was an Positivem am Vollzugsende dokumentiert werden kann, ist am Tag der Entlassung bereits gefährdet. In welches soziale Umfeld kommt der Entlassene? Sind Arbeitsplatz, Wohnung und Lebensunterhalt gesichert? Wie bedrohlich sind Verschuldung und Drogenabhängigkeit? Gibt es stabile soziale Beziehungen? Diese sind, nach allem was wir wissen, der wichtigste Resozialisierungs-Faktor und gleichzeitig am wenigsten steuerbar. Der Strafvollzug ist überfordert, wenn ihm allein die Aufgabe der Resozialisierung übertragen wird.

Nötig wäre nach der Bundestagswahl eine (selbst-)kritische Zwischenbilanz des Strafvollzugs und eine Agenda 2025 für Bund und Länder. Der Deutsche Bundestag sollte dazu zeitnah eine unabhängige Enquetekommission einsetzen, die gesamte Sicherheits- und Resozialisierungsarchitektur gehört kritisch überprüft. Schon jetzt sind sich Experten weitgehend einig: Ersatzfreiheitsstrafen gehören nach dem Beispiel der skandinavischen Länder abgeschafft, die kurze Freiheitsstrafe ist weiter zu reduzieren, die Gefangenenraten können weiter gesenkt werden, Fehlbelegungen sollten abgebaut und deshalb Neubauprogramme kritisch überprüft werden. Für besonders gefährliche Täter, einschließlich terroristische Gefährder, werden länderübergreifende Lösungen benötigt, die Bewährungshilfe und die Projekte freier Träger sind massiv auszubauen. Neben den Strafvollzugsgesetzen brauchen wir Landesresozialisierungsgesetze, um ein leistungsfähiges Gesamtsystem der Resozialisierung einzuführen und zu sichern.

Der Vorwurf des Staatsversagens ist dann berechtigt, wenn wider besseren Wissens mutwillig nicht das Bestmögliche geleistet wird, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Diese Grenze ist im Strafvollzug erreicht, sie wird jeden Tag neu überschritten.

© SZ vom 28.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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