Außenansicht:Ordnung und Struktur

Lesezeit: 3 min

Cornelia Koppetsch, 51, ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Derzeit forscht sie über Verunsicherungen in der Mittelschicht und die Ursachen für den Aufstieg des Rechtspopulismus. (Foto: oh)

Die AfD bündelt vielerlei Unmut. Sie ist nicht von kurzer Dauer.

Von Cornelia Koppetsch

Zum Auftakt der Generalaussprache im Bundestag hat AfD-Fraktionschefin Alice Weidel für Empörung im Plenum gesorgt, als sie sagte: "Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern." Dafür kassierte sie einen Ordnungsruf. Besser hätte es nicht laufen können, Provokationen und Tabubrüche gehören zum Geschäft einer Protestpartei. Und dieses Geschäft betreibt die AfD gut.

Seit der Parteigründung der AfD wird regelmäßig deren baldiger Untergang vorausgesagt. Bislang jedoch kann von einem schnellen Ableben nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Sie bildet den Resonanzboden einer hoch dynamischen und breiten Protestbewegung in Deutschland, die weit in die Zivilgesellschaft hineinreicht. Ihre programmatische Breite zeigt sich daran, dass unterschiedliche Wählergruppen, vor allem aus der CDU, der SPD und der Linken, zur AfD abgewandert sind.

Dabei ist die AfD längst nicht nur eine politische Adresse für Wutbürger und Pegida-Demonstranten, sondern findet auch Sympathisanten in bürgerlichen Kreisen. Publizisten und Schriftsteller wie Uwe Tellkamp, Rüdiger Safranski, Vera Lengsfeld und Matthias Matussek haben die "Erklärung 2018" unterzeichnet, in der zu Protokoll gegeben wurde: "Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird." Ganz unterschiedliche Milieus und Akteure finden sich somit unter dem Dach des Rechtspopulismus zu einer politischen Kampf-Vergemeinschaftung zusammen und decken dabei ein thematisch breit gefächertes Protestprofil ab. Angefangen vom Protest gegen "den Islam" und "die Flüchtlinge" über die Ablehnung einer progressiven Europapolitik bis hin zum Protest gegen eine als übertrieben empfundene liberale Geschlechter- und Gleichstellungspolitik.

Ähnlich wie die Linke adressiert die Rechte zunächst einmal auch soziale Spaltungen, allerdings nicht unter dem Vorzeichen des Ökonomischen, sondern in Gestalt kollektiver Identitäts- und Grenzmarkierungen. Dabei werden unterschiedliche soziale Konfliktlinien, etwa die zwischen Ost- und Westdeutschen, zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern, zwischen Kosmopoliten auf der einen Seite und den Verfechtern von Heimat, Region und traditionellen Werten auf der anderen Seite, zwischen europafreundlichen und europakritischen Bürgern, unter dem Dach der politischen Rechten gebündelt. In diesen Konflikten geht es nicht allein um bloße Identitäts- oder Kulturfragen oder gar primär um die Abwehr der "Islamisierung des Abendlandes". Vielmehr steht die Verteidigung von Privilegien, von Etablierten-Vorrechten, auf dem Spiel. Gestritten wird um gesellschaftliche Ränge und Einflussbereiche.

Die Rechtspopulisten erfüllen alle Merkmale einer erfolgreichen Protestbewegung

Derartige Konflikte wären aber kaum durch eine Protestbewegung mobilisierbar, wenn sie nicht auch durch eine allgemeinere Gesellschaftskritik und diverse gesellschaftliche Krisenereignisse flankiert würden. Denn damit Protestbewegungen erstarken, müssen mindestens drei Faktoren zusammenkommen: Erstens eine strukturelle Deklassierung wesentlicher Teile der Bevölkerung; zweitens eine Verschiebung im Zeitgeist, die zum Widerspruch und Widerstand gegen die herrschende Kultur (hier: des progressiven Neoliberalismus) aufruft und drittens strukturbedrohliche Krisenereignisse, wie sie in der jüngeren Vergangenheit etwa die Finanzkrise, die Bedrohung durch Terror, Kriege oder - für manche Bevölkerungsgruppen - die massenhafte Zuwanderung aus dem globalen Süden darstellt.

Nur durch das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Entwicklungsfaktoren erhält der politische Protest sozial deklassierter oder an den Rand gedrängter Gruppen eine allgemeine Legitimationsgrundlage. Der Kampf für das Eigene wird dadurch zum Kampf für die Allgemeinheit.

Die strukturellen Parallelen zu den sozialen Protestbewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre liegen auf der Hand. Auch diese verdankten ihren Erfolg ja dem Zusammenstoß gesellschaftlicher Krisenereignisse (atomare Bedrohung, Ökologiekrise, Ölkrise) mit dem Zeitgeist. Letzterer betraf die Trendwende von den Ordnungswerten hin zu Toleranzwerten, von Fragen der Ein- und Unterordnung hin zu Fragen der Gleichberechtigung, der individuellen Selbstverwirklichung, der politischen Partizipation und der Menschenrechte. Und auch sie wurden getragen von damals eher marginalisierten Gruppen, wie etwa Frauen, Homosexuellen und - ganz allgemein - jungen Erwachsenen.

Doch im Gegensatz zur Achtundsechziger-Bewegung ist die neue politische Rechte nicht progressiv in die Zukunft, sondern bestenfalls auf den Erhalt des Bestehenden gerichtet, tendenziell sogar regressiv, und sie lebt von der Ausgrenzung Andersdenkender. In gewisser Weise streben rechtspopulistische Protestbewegungen ja eine Umkehrung der durch die sozialen Gegenbewegungen von 1968 bewirkten Veränderungen an. Nicht die Herauslösung, sondern die Wiedereinbindung des Individuums in Traditionen, nicht der Kampf des Subjekts gegen übermächtige Strukturen, sondern die Wiederherstellung von Strukturen, nicht Individualisierung und Verflüssigung, sondern Vergemeinschaftung und Verfestigung heißen die übergeordneten kulturellen Ziele der politischen Rechten.

Damit treffen sie allerdings durchaus den Geist der Zeit, denn dieser bewegt sich heute wieder in konservative Richtung. Die einst verachtete Normalität wird gerade für die Jüngeren wieder zu einem erstrebenswerten Maßstab, dazu gehört auch, die Provinzen, Sinn- und Landprovinzen, wieder aufleben zu lassen. Das schafft Übersichtlichkeit in einer unübersichtlichen Gegenwart.

Was ist zu tun? Zu erkennen wäre zunächst, dass auch liberale, freidenkende Menschen nicht individuell, auf sich gestellt existieren können, sondern auf solidarische Netzwerke angewiesen bleiben, die einst der Wohlfahrtsstaat garantierte, nun aber immer stärker den halbwegs wohlhabenden Familien vorbehalten sind. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass einige nun anfangen, unverbrüchliche Gemeinschaften wie "das Volk" heraufbeschwören, Sündenböcke suchen und sich abschotten. Sie rekurrieren dabei auf eine konservative, die Schwächen und Schutzbedürftigkeit des Einzelnen betonende Anthropologie. Wenn die Politik hier einschreiten möchte, muss sie Heimaten für alle schaffen. Dies könnte etwa mit Mietpreisregulationen, mit der Schaffung bezahlbaren Wohnraums, beginnen.

© SZ vom 22.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: